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Das lebendige Theorem (German Edition)

Das lebendige Theorem (German Edition)

Titel: Das lebendige Theorem (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Cédric Villani
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unter diese Begegnung zu ziehen, die in mein Gedächtnis eingraviert bleiben wird … ich werde zu meinen Sachen mit der Landau-Dämpfung zurückkehren.
    Während der Rückkehr nach Princeton kommen mir wieder Zweifel.
    Wenn man es recht bedenkt, wird der Beweis doch nicht funktionieren.
    Dieses Seminar in Rutgers ist ein Schlüsselmoment für meine Forschungen. Ergebnisse anzukündigen, die noch nicht bewiesen sind, ist ein schwerer Fehler, ein Bruch des Vertrauensabkommens, das den Redner mit seiner Zuhörerschaft verbindet. Damit der Fehler nicht allzu gewaltig ist – ich stehe mit dem Rücken zur Wand –, muss ich das, was ich angekündigt habe, um jeden Preis beweisen.
    Man sagt, dass John Nash, mein mathematischer Held, die Angewohnheit hatte, sich einem unglaublichen Druck auszusetzen, indem er Ergebnisse ankündigte, die er noch nicht beweisen konnte. Jedenfalls hat er das beim Theorem der isometrischen Einbettung so gemacht.
    Seit dem Seminar in Rutgers empfinde ich etwas von demselben Druck. Das Gefühl von Dringlichkeit wird mich in den kommenden Monaten nicht mehr verlassen. Ich muss diesen Beweis vervollständigen, oder ich bin entehrt!!
    *
    Stellen Sie sich vor: Sie gehen an einem friedlichen Sommernachmittag im Wald spazieren und halten an einem See inne. Alles ist ruhig, nicht einmal ein Windhauch.
    Plötzlich beginnt die Oberfläche des Sees zu zucken, alles erbebt in einem gewaltigen Wirbel.
    Und dann, nach einer Minute, ist wieder alles ruhig. Wieder kein Windhauch, kein Fisch im See, was also ist geschehen?
    Das Paradoxon von Scheffer-Shnirelman, gewiss das überraschendste Ergebnis der gesamten Flüssigkeitsmechanik, beweist, dass etwas so Monströses möglich ist, zumindest in der Welt der Mathematik.
    Es beruht nicht auf einem exotischen Modell, auf Quantenwahrscheinlichkeiten, auf dunkler Energie oder was weiß ich. Es beruht auf der inkompressiblen Euler-Gleichung, der ranghöchsten aller partiellen Differentialgleichungen, dem von allen Mathematikern und Physikern akzeptierten Modell zur Beschreibung einer perfekten, nichtkomprimierbaren Flüssigkeit ohne innere Reibungen.
    Es ist mehr als 250 Jahre her, dass die Euler-Gleichung geboren wurde, und dennoch ist man noch nicht in alle ihre Geheimnisse eingedrungen. Schlimmer noch: Die Euler’sche Gleichung gilt als eine der tückischsten von allen. Als das Clay-Institut für Mathematik auf sieben mathematische Probleme einen Preis ausgesetzt hat, eine Million Dollar auf jedes davon, hat es zwar darauf geachtet, die Regularität der Lösungen von Navier–Stokes aufzunehmen, aber es hat auch sorgsam vermieden, von Euler zu sprechen, was noch viel grässlicher ist.
    Und doch sieht die Euler-Gleichung auf den ersten Blick so einfach, so unschuldig aus. In der Flüssigkeitsmechanik würde man ihr blind vertrauen! Es ist völlig unnötig, die Dichtevariationen zu modellieren oder die rätselhafte Viskosität zu verstehen. Man braucht nur die Erhaltungsgesetze aufzuschreiben: Masseerhaltung, Impulserhaltung, Energieerhaltung.
    Aber … 1994 zeigt Scheffer, dass die Euler’sche Gleichung in der Ebene die spontane Erzeugung von Energie erlaubt! Die Erzeugung von Energie aus nichts! Nie hat man Flüssigkeiten beobachtet, die solche Ungeheuerlichkeiten in der Natur hervorgebracht hätten! Das bedeutet, dass die Euler-Gleichung für uns noch einige große Überraschungen bereithält.
    Scheffers Beweis war eine Meisterleistung mathematischer Virtuosität, und er war ebenso dunkel wie schwierig. Ich bezweifle, dass jemand anderer als sein Autor ihn jemals im Einzelnen gelesen hat, und ich bin sicher, dass niemand ihn reproduzieren kann.
    1997 legte der russische Mathematiker Alexander Shnirelman, der für seine Originalität bekannt ist, einen neuen Beweis dieser verblüffenden Aussage vor. Kurze Zeit später schlug er vor, den Lösungen der Euler-Gleichung ein physikalisch realistisches Kriterium aufzuerlegen, welches das pathologische Verhalten unterbinden sollte.
    Ach! Vor einigen Jahren bewiesen zwei junge brillante Mathematiker, der Italiener De Lellis und der Ungar Székelyhidi, ein noch schockierenderes allgemeines Theorem und wiesen dabei die Machtlosigkeit von Shnirelmans Kriterium für die Auflösung des Paradoxons nach. Obendrein schlugen sie mit Hilfe der Techniken der konvexen Integration eine neue Methode vor, um diese grässlichen Lösungen hervorzubringen, ein kristallklares Verfahren, das sich auf einer Bahn bewegt, die von zahlreichen

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