Das lebendige Theorem (German Edition)

fieberhafter Erregung.

Alice Chang
    Heute am Sonntag habe ich darauf geachtet, tagsüber keine Mathematik zu treiben, ich habe den Tag damit begonnen, mit den Kinderm zu einem Brunch bei Alice Chang zu gehen, wo eine Menge großer Namen aus der Mathematik verkehrten. Als Professorin an der Universität Princeton und Plenarsprecherin auf dem Internationalen Mathematikerkongress vor einigen Jahren ist Alice Chang eine anerkannte Expertin für geometrische Analysis; sie hat mich ans IAS eingeladen, um an dem Programm teilzunehmen, das sie dieses Jahr dort veranstaltet.
    An diesem Morgen beim Brunch haben wir über alles Mögliche gesprochen, zum Beispiel auch über das berühmte Shanghai-Ranking, dieses Ranking sämtlicher Universitäten der Welt, auf das die französischen Politiker und Medien so begierig sind. Als ich dieses Thema mit Alice anschnitt, habe ich mich gefragt, wie sie wohl reagieren würde, sie, die zugleich Professorin an einer der weltberühmtesten Institute für Mathematik ist und aus China stammt. Würde sie ihren Stolz über die Bedeutung zum Ausdruck bringen, die dieses chinesische Ranking angenommen hat? Ihre Reaktion hat mich aus der Fassung gebracht.
    – Cédric, was ist das Shanghai-Ranking?
    Als ich erklärte, um was es sich handelt, hat sie mich angesehen, als ob ich auf dem Kopf gehen würde. Cédric, ich verstehe nicht, in Frankreich wird es als sehr prestigeträchtig angesehen, wenn man in diesem chinesischen Ranking ist?? (Coco, glaubst du nicht, dass du die Rollen vertauschst?) Ich würde Alice gern den französischen Kollegen vorstellen, die Politik betreiben, ach.
    Schließlich habe ich erst spät am Abend mit der Arbeit angefangen, als die Kinder im Bett waren. Und es ist wie ein Wunder, alles scheint sich wie durch einen Zauber zu verketten! Völlig zitterig redigiere ich die letzten 6 oder 7 Seiten, die – davon bin ich überzeugt – den Abschluss des Beweises einläuten werden, zumindest was die Wechselwirkungen angeht, die regulärer als die Coulomb’sche sind. Es gibt zwar zahlreiche Fallgruben, aber nichts, was unüberwindlich erschiene.
    Um 2 Uhr 30 gehe ich schlafen, aber es rumort dermaßen in meinem Kopf, dass ich lange, lange noch mit weitgeöffneten Augen wachliege.
    Um 3 Uhr 30 schlummere ich ein.
    Um 4 Uhr weckt mich mein Sohn, er hat sein Bett eingenässt. Das ist schon Jahre nicht mehr passiert, nun musste es in dieser Nacht geschehen …
    So ist das Leben, vorwärts, ich muss die Betttücher und das ganze Drumherum wechseln.
    Es gibt Zeiten, wo sich alles verschworen hat, um einen vom Schlafen abzuhalten. Egal!
    *
Jeder Mathematiker, der dieser Bezeichnung würdig ist, hat, wenn auch nur manchmal, den Zustand hellsichtiger Erregung verspürt, in dem ein Gedanke auf den anderen folgt wie durch ein Wunder … Im Gegensatz zur sexuellen Lust kann dieses Gefühl mehrere Stunden und sogar mehrere Tage lang anhalten.

André Weil

Kapitel 23
    Princeton, 22. März 2009
    Am Ende war meine Lösung immer noch falsch. Ich brauchte fast eine Woche, um mich davon zu überzeugen. Der größte Teil des Beweises war zwar immer noch in Ordnung, aber der vermaledeite Nullmodus verhöhnte uns weiterhin … Dennoch, wir kamen der Sache näher!
    Seit Taiwan, wo er damit begonnen hat, unsere Arbeiten öffentlich zu präsentieren, hat Clément meine Ideen verdaut, in seine eigenen eingebaut und sie in seiner eigenen Soße gekocht; dann habe ich alles wieder mit meiner Soße bearbeitet.
    Jetzt ist es viel einfacher als meine erste Version, und es funktioniert! Ein Jahr lang, Tag für Tag haben wir an diesem Beweis gearbeitet, und zum ersten Mal sieht er so aus, als ob er funktionierte!
    Es ist auch Zeit: In zwei Tagen verkünde ich das Ergebnis in Princeton …

Date: Sun, 22 Mar 2009 12:04:36 +0800
From: Clement Mouhot
To: Cedric Villani
Subject: Ausfeilen
So, ich glaube, ich habe verstanden, was du mit dem räumlichen Mittelwert gemeint hast!! Und ich glaube, dass man das mit der Idee verknüpfen muss, die ich dir am Telefon erzählt habe (tatsächlich ergänzen sich die beiden), hier ist nun der Plan:

(1) Ich denke, dass der Kalkül, der dir vorschwebte, um die bessere und stratifizierte Regularität des Background auszunutzen, die Rechnung auf den Seiten 65–66 am Anfang von Abschnitt 6 ist: In diesem Fall (keine Streuung) kann man den Spielraum der Regularität auf dem Background tatsächlich »gratis«