Das lebendige Theorem (German Edition)
die Stelle am IHP angenommen. Und unser Theorem läuft auf sicheren Gleisen. In den letzten Tagen habe ich zweimal bis vier Uhr morgens gearbeitet, meine Motivation ist weiterhin intakt.
Heute Abend bereite ich mich noch einmal auf eine lange Sitzung vor, in intimer Zweisamkeit mit dem Problem. Der erste Schritt besteht darin, Wasser zu erhitzen.
Aber als ich entdecke, dass kein Tee mehr im Haus ist, werde ich von einer panischen Angst erfasst! Ohne die Unterstützung der Blätter von Camellia sinensis kann ich mir einfach nicht vorstellen, mich in die sich abzeichnenden stundenlangen Rechnungen zu vertiefen.
Es ist schon dunkel und deshalb zwecklos zu hoffen, dass ich in Princeton noch einen geöffneten Laden finde. Mutig schwinge ich mich auf mein Fahrrad, um im Gemeinschaftsraum der Abteilung für Mathematik Teebeutel zu entwenden.
An der Tür des Labors angelangt, tippe ich den Eingangskode ein und gehe zum ersten Stock hoch. Alles ist dunkel, nur ein Lichtstrahl dringt unter der Tür von Jean Bourgain hervor. Ich bin nicht im Geringsten überrascht: Obwohl Jean die größten Auszeichnungen erhalten hat und als einer der gewaltigsten Analytiker der letzten Jahrzehnte gilt, hat er die Arbeitszeiten eines jungen Wolfs mit langen Zähnen beibehalten, und darüber hinaus möchte er gerne im Einklang mit der Zeit an der Westküste bleiben, wohin er regelmäßig reist. Man kann darauf wetten, dass auch er bis Mitternacht arbeitet.
Ich schleiche in den Gemeinschaftsraum und bemächtige mich heimlich unter dem vorwurfsvollen Blick André Weils der heißbegehrten Beutel. Schnell gehe ich wieder nach unten.
Aber auf dem Rückweg begegne ich Tom Spencer, einem großen Experten für statistische Physik und einem meiner besten Freunde am Institut. Ich bin gezwungen, mein Vergehen einzugestehen.
– Oh, tea! Keeps you going, eh?
Wieder zu Hause. Jetzt sind die kostbaren Beutel da, vor mir, ich werde mit der Zeremonie beginnen können.
Und Musik bitte, oder ich sterbe.
Im Moment höre ich viele Chansons. Catherine Ribeiro, Ribeiro, die in einer Endlosschleife läuft. Danielle Messia, die verlassene Tragische. Catherine Ribeiro, die Passionara. Mama Béa Tekielski, die Aufgekratzte mit dem herrlichen Kreischen. Ribeiro, Ribeiro, Ribeiro. Die Musik, unabdingbare Gefährtin in Augenblicken einsamer Forschung.
Es gibt nichts Wirkungsvolleres als Musik, um sich in einen vergessenen Kontext zurückzuversetzen. Ich erinnere mich an den Schock im Gesicht meines Großvaters, als er mich zum ersten Mal ein Stück von Francis Poulenc spielen hörte; von einem Moment auf den anderen fühlte er sich sechzig Jahre in die Vergangenheit zurückversetzt, in die bescheidene kleine Wohnung mit den zu dünnen Wänden, die bei allen Musikstücken seines Flurnachbarn, eines Komponisten für klassische Musik, der derselben ästhetischen Strömung wie Poulenc angehörte, in Resonanzschwingung versetzt wurden.
Was mich angeht, so werde ich, wenn ich Gundula Janowitz Gretchen am Spinnrade anstimmen höre, wieder zu dem jungen Mann, der sich wegen Pneumothorax in der Reanimationsabteilung des Hôpital Cochin befand und einen Teil seiner Tage mit dem Verschlingen von Carmen Cru und einen Teil seiner Nächte damit verbrachte, mit den Assistenzärzten über Musik zu diskutieren und mit einem von einer Freundin geborgten irischen Teddybären im Arm einzuschlafen.
Die von Tom Waits gegrölte Cemetry Polka erinnert mich an meinen zweiten Pneumothorax in einem großen Lyoner Krankenhaus mit einem anzüglichen Zimmernachbarn, der die Krankenschwestern oft zum Lachen brachte.
Die Verwandlung John Lennons in Walross (Walrus) führt mich zu einem Saal der École Polytechnique zurück; ich war achtzehn und befand mich gerade zwischen zwei mündlichen Aufnahmeprüfungen, die Zukunft zeigte sich als hübsches Fragezeichen.
Drei Jahre später ertönte der dramatische Anfang des Klavierkonzerts Nr. 1 von Brahms laut in meiner kleinen Studentenbude des Internats der École Normale Supérieure, als ein junges Mädchen, das dafür eine Erklärung haben wollte, ganz bewegt an meine Tür klopfte.
Um wieder in meine frühe Kindheit einzutauchen, gibt es nichts Besseres als das eigensinnige Porque Te Vas , das den Ruhm von Jeannette begründete, das leicht sarkastische Baleine Bleue von Steve Waring oder das ätzende Grand Méchant Loup von Tachan. Oder auch, weiß der Himmel, warum, ein Thema aus dem Violinkonzert von Beethoven, das meine Mutter gerne
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