Das lebendige Theorem (German Edition)
System für gewaltige Zeiträume stabil ist, vielleicht eine Million Jahre, jedenfalls viel länger, als Newton selbst glaubte. Erstmals in der Geschichte der Menschheit sagte man qualitativ das Verhalten der Sterne in einem Zeitmaßstab voraus, der viel größer war, als alle Archive je verzeichneten!
Die Frage blieb dennoch bestehen: Ist die Katastrophe jenseits dieser gewaltigen Zeiträume möglich? Wenn man nicht eine Million, sondern hundert Millionen Jahre wartet, laufen Mars und Erde dann Gefahr, miteinander zu kollidieren? Hinter diesem besonderen Problem stehen Grundfragen der Physik im Allgemeinen.
Poincaré behandelt nicht das gesamte Sonnensystem – das ist zu kompliziert! Stattdessen betrachtet er ein reduziertes und idealisiertes Sonnensystem, das nur zwei Planeten enthält, die sich um die Sonne drehen, wobei der eine im Verhältnis zum anderen winzige Ausmaße hat. Etwa so, als ob man alle Planeten bis auf Jupiter und die Erde weglassen würde … Poincaré hat dieses gereinigte Problem untersucht und hat es noch stärker vereinfacht, bis er dessen lebendiges Herz herausnehmen konnte. Zu diesem Zweck hat er neue Methoden erfunden, und er hat die ewige Stabilität dieses reduzierten Systems nachgewiesen!
Für diese hervorragende Leistung empfing er den Ruhm und die Belohnung König Oskars.
Das siegreiche Manuskript sollte in Acta Mathematica veröffentlicht werden. Aber der Assistent, der den Text herausgab, war über einige etwas konfuse Passagen in Poincarés Lösung beunruhigt. Das ist nichts Besonderes: Jedermann wusste, dass Poincaré kein Vorbild an Klarheit war. Er teilte dem Denkmal der französischen Mathematik seine Fragen mit.
Zu dem Zeitpunkt, als Poincaré merkt, dass sich ein schwerer Fehler in seinen Beweis eingeschlichen hat, war der Aufsatz schon veröffentlicht! Ein Erratum genügte nicht, die eigentlichen Ergebnisse des Aufsatzes waren von Grund auf verseucht.
Ohne die Fassung zu verlieren, rief Mittag-Leffler alle Exemplare seiner Zeitschrift einzeln unter belanglosen Vorwänden zurück, bevor irgendjemand den Fehler bemerken konnte. Er ließ alles oder fast alles einstampfen. Poincaré bezahlte die Auslagen – es kostete ihn mehr als die Belohnung König Oskars!
Außergewöhnlich wird die Geschichte an dem Punkt, wo Poincaré seinen Irrtum in einen Gründungsakt verwandelt. Es gelingt ihm, alles wieder hinzubekommen, er änderte seine Schlussfolgerungen und stellte fest, dass er das Gegenteil von dem bewiesen hatte, was er dachte: Die Instabilität ist möglich!
Korrigiert und nochmals veröffentlicht, wurde der Aufsatz zum Gründungstext der Theorie dynamischer Systeme, eine Theorie, die heutzutage Tausende Forscher auf der ganzen Welt beschäftigt. Die Chaostheorie, der Schmetterlingseffekt, all das ist im Keim schon in Poincarés Aufsatz enthalten. Was ein Desaster hätte sein können, war für Acta Mathematica ein Triumph.
Der Ruhm der Zeitschrift vergrößerte sich auch weiterhin, und sie wurde zu einer der prestigeträchtigsten oder vielleicht zu der prestigeträchtigsten Zeitschrift der Welt. Wenn Sie heute einen Forschungsaufsatz unter den 600 Seiten platzieren, die diese Zeitschrift jährlich veröffentlicht, genügt das fast für die Sicherung Ihrer beruflichen Zukunft in der Gemeinschaft der Mathematiker.
Als Poincaré 1912 starb, wurde er in Frankreich wie ein Nationalheld gefeiert. 1916 verstarb Mittag-Leffler; man wandelte seinen Wohnsitz in ein internationales Forschungszentrum um, wo Mathematiker aus aller Herren Länder über neue Probleme miteinander diskutieren und gemeinsam über sie nachdenken können. Das war das Mittag-Leffler-Institut, das allererste seiner Art, das heute noch aktiv ist. 1928 gründete man in Paris ein zweites Zentrum, das auf denselben Prinzipien einer internationalen Mischung basierte und Kurse auf Forschungsniveau besonders förderte: das Institut Henri Poincaré.
Henri Poincaré & Gösta Mittag-Leffler
Kapitel 36
Ann Arbor, 27. Oktober 2009
In meinem Hotelzimmer in Ann Arbor. Ich verbringe ein paar Tage an der Universität von Michigan – eine große Universität mit einigen Mathematikern allerhöchsten Ranges.
Clément war von der Ablehnung durch Acta Mathematica sehr niedergeschlagen. Er wollte, dass wir versuchen, sie davon zu überzeugen, ihre Entscheidung zu revidieren, ihnen zu erklären, warum unser Ergebnis so innovativ und wichtig ist, auch wenn kleine dunkle Stellen übrig bleiben.
Aber ich kenne diese
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