Das lebendige Theorem (German Edition)
Thema, das mich schon immer begeistert hat. Ein unglaubliches Zusammentreffen von Umständen, das sich nicht ereignet hätte, wenn Giuseppe seine schlechte Idee nicht genau zur Zeit meines Besuchs gehabt hätte!
Wir haben die Vermutung dann fast gelöst, und ich hatte diese Ergebnisse später aufgeregt den besten Experten der Boltzmann-Gleichung auf einer Tagung in Toulouse vorgestellt. Wie viele andere hatte Carlo mich bei dieser Gelegenheit entdeckt. Er fühlte sich wie im siebten Himmel und hat mir das auch zu verstehen gegeben. Mit leidenschaftlicher Stimme hatte er mich feierlich angesprochen: »Cédric, prove my conjecture! (beweise meine Vermutung)«
Mit dreiundzwanzig Jahren war das einer meiner ersten wissenschaftlichen Artikel. Aber fünf Jahre später kam ich bei meinem dreiundzwanzigsten Fachartikel auf dieses Problem mit mehr Erfahrung und technischem Können zurück, und es gelang mir schließlich, die berühmte Vermutung zu beweisen: Carlo war so stolz darauf.
Carlo zählte auf mich, um einige der vertracktesten und wichtigsten Probleme zu lösen, die beim Studium der Boltzmann-Gleichung noch übrig sind. Das gehörte zwar auch zu meinen Träumen, aber ich bin ohne Vorwarnung von diesem Weg abgewichen, und zwar zunächst zum optimalen Transport und zur Geometrie und anschließend zur Wlassow-Gleichung und zur Landau-Dämpfung.
Ich rechne fest damit, später wieder zu Boltzmann zurückzukehren. Aber selbst wenn ich meine Träume in dieser Hinsicht verwirkliche, werde ich doch niemals den Stolz und die Freude empfinden, Carlo zu verkünden, dass ich sein Lieblingsungeheuer, für das er alles gegeben hätte, gezähmt habe.
*
Die Cercignani-Vermutung bezieht sich auf die Verbindungen zwischen der Entropie und der Entropieproduktion in einem Gas. Um die Sache zu vereinfachen, vergessen wir die räumlichen Inhomogenitäten des Gases, so dass allein die Verteilung der Geschwindigkeiten zählt. Es sei also eine Geschwindigkeitsverteilung f (v) in einem Gas außerhalb des Gleichgewichts: Die Verteilung ist nicht die Gauss’sche γ(v), und daher ist die Entropie auch nicht so hoch, wie sie sein könnte. Die Boltzmann-Gleichung sagt zwar voraus, dass die Entropie zunehmen wird, aber wird sie viel oder nur sehr wenig zunehmen?
Die Cercignani-Vermutung drückt die Hoffnung aus, dass die augenblickliche Erhöhung der Entropie wenigstens proportional zum Unterschied zwischen der Entropie der Gauss’schen Verteilung und der Entropie der uns interessierenden Verteilung ist:
Diese Vermutung besitzt Implikationen für die Geschwindigkeit, bei der die Verteilung gegen das Gleichgewicht konvergiert, eine grundlegende Frage, weil sie doch mit Boltzmanns faszinierender Entdeckung der Irreversibilität verknüpft ist.
Zu Beginn der 90er Jahre haben Laurent Desvillettes und dann Eric Carlen und Maria Carvalho über diese Vermutung gearbeitet und Teilergebnisse erzielt; obwohl sie völlig neue Horizonte eröffnet hatten, waren sie noch weit vom wirklichen Ziel entfernt. Und Cercignani selbst hat mit Hilfe des Russen Sascha Bobilew gezeigt, dass seine Vermutung zu optimistisch war und nicht wahr sein konnte … außer vielleicht, wenn man äußerst starke Kollisionen betrachtet, Wechselwirkungen, die härter sind als harte Kugeln mit einem Wirkungsquerschnitt, der mindestens proportional zur Relativgeschwindigkeit wächst – »sehr harte Kugeln«, wie man im Jargon der kinetischen Gastheorie sagt.
Aber 1997 haben Giuseppe Toscani und ich unter bestimmten technischen Annahmen über die Kollisionen eine »fast« genauso gute Grenze nachgewiesen:
wobei ε so klein ist, wie man nur will.
2003 habe ich gezeigt, dass dieses Ergebnis für alle plausiblen Wechselwirkungen wahr bleibt; und vor allem ist es mir gelungen, zu zeigen, dass die Vermutung wahr ist, wenn die Kollisionen mit hoher Geschwindigkeit vom Typ der sehr harten Kugeln sind. Die Schlüsselidentität, 1997 mit Toscani entdeckt, war folgende:
Wenn (S t ) t≥0 die mit der Fokker–Planck-Gleichung verknüpfte Halbgruppe ist, wobei und , dann
wobei
Diese Identität spielt eine Schlüsselrolle in der Darstellungsformel
wobei F(v, v * ) = f(v)f(v * ) und G(v, v * ) der Mittelwert aller Produkte ist, wenn alle Paare von Geschwindigkeiten nach der Kollision beschreibt, die mit den Geschwindigkeiten (v, v * ) vor der Kollision kompatibel sind. Diese Formel liegt der Lösung der Cercignani-Vermutung zugrunde.
Carlo Cercignani
Theorem (Villani, 2003).
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