Das lebendige Theorem (German Edition)
Ende. Persönliche Fragen, wissenschaftliche Fragen, institutionelle Fragen. Und Fragen, die häufig auf dasselbe oder fast auf dasselbe hinauslaufen. Was ist das für ein Gefühl, diesen Preis zu empfangen?
Schließlich kehre ich etwas bleich und hungrig aus meinem Zimmer nach unten zurück – aber ich habe schon anderes erlebt. Ich lasse mir einen gut gewürzten Massalatee servieren und kehre zurück, um der Menge zu begegnen. Ein Schwarm junger Leute stürzt auf mich zu, natürlich viele Inder. Ich gebe Hunderte von Autogrammen und posiere etwas benommen für zahllose Fotos.
Im Gegensatz zu den anderen Preisträgern bin ich alleine gekommen: Frau und Kinder sind in Frankreich geblieben, in Sicherheit vor dem Menschengewühl. Das ist mir lieber! Und ich habe die Anweisungen befolgt und mit niemand anderem als meiner Frau über die Medaille gesprochen – nicht einmal mit meinen Eltern, die es von der Presse erfahren!
Und … Catherine Ribeiro hat mir einen prächtigen Rosenstrauß nach Hause geschickt!
Ich bin unendlich weit davon entfernt, mir vorzustellen, dass meine Kollegin Michelle Schatzman in Lyon stirbt, während ich in Hyderabad für eine Menge spontan erschienener Fotografen posiere. Michelle war die Tochter des großen französischen Astrophysikers Évry Schatzman und eine der originellsten Mathematikerinnen, denen ich begegnen durfte, immer bereit, sich unüberwindlichen pädagogischen Herausforderungen zu stellen oder Verbindungen zu erforschen, für die sich niemand sonst zu interessieren wagte, wie z.B. das Grenzgebiet zwischen der Algebra und der numerischen Analysis. Grenzen , das war der Name eines Forschungsprogramms, das von Michelle mit Trommelschlag verfasst wurde und den Charakter eines Manifests hatte. Michelle war seit meiner Ankunft in Lyon im Jahr 2000 eine Freundin; wir haben gemeinsam Seminare besucht und uns mehr als einmal miteinander verschworen, um diesen oder jenen ausgezeichneten Mathematiker an die Universität von Lyon zu locken.
Michelle Schatzman
Michelle nahm nie ein Blatt vor den Mund und zeichnete sich dadurch aus, dass sie mit der Tür ins Haus fiel, wobei sie gelegentlich einen verheerenden schwarzen Humor verbreitete. Nachdem sie vor mehr als fünf Jahren von einer unheilbaren Krebserkrankung befallen wurde, folgte auf die Chemotherapie die Operation, und sie erklärte uns mit funkelnden Augen, wie schön das Leben doch sei, seit sie die Kosten für das Shampoo sparte. Vor einigen Monaten haben wir in der Mathematik in Lyon ihren 60. Geburtstag gefeiert. Unter den Rednern, die von nahezu überall herkamen, war ein Mann mit vielen Gesichtern, Uriel Frisch, Physiker von Weltruf, der früher Schüler von Michelles Vater war; und ich selbst, geistiger Sohn eines ihrer geistigen Söhne. Michelle hatte auf brillante Weise eine Verbindung zwischen meinem Vortrag über die Landau-Dämpfung und den von Uriel beschworenen »Tygern« hergestellt. Das hatte Klasse!
Aber in den letzten Wochen hatte sich ihr Zustand plötzlich verschlimmert. Stolz und aufrecht in der Krankheit, wie sie es ihr ganzes Leben lang gewesen war, hat Michelle das Morphium abgelehnt, um ihre Klarsichtigkeit zu bewahren. Auf ihrem Sterbebett hat sie die Ergebnisse der Fields-Medaille erfahren, die sie ungeduldig erwartete; und ein paar Stunden später ist sie verschieden. Man weiß es: Das Leben ist voller Freud und Leid, die unentwirrbar miteinander verwoben sind.
*
19. August 2010, in Indien
Seit heute Morgen beherbergt das Grandhotel von Hyderabad die weltgrößte Konzentration von Mathematikern. Von allen Kontinenten kommend, haben sie alle ihre besonderen mathematischen Fähigkeiten mitgebracht: Analysis, Algebra, Geometrie, Wahrscheinlichkeitsrechnung, Statistik, partielle Differentialgleichungen, algebraische Geometrie und geometrische Algebra, harte und weiche Logik, metrische und ultrametrische Geometrie, harmonische und wohlklingende Analysis, probabilistische Zahlen- und Schattentheorie, Entdecker von Modellen und Supermodellen, Schöpfer ökonomischer und mikroökonomischer Theorien, Erfinder von Superrechnern und genetischen Algorithmen, Entwickler von Verfahren der Bildverarbeitung und der Banach-Geometrie, Sommer-, Herbst-, Winter- und Frühlingsmathematik und tausend andere Spezialitäten, die aus der Menschenmenge einen großen Gott Shiva mit tausend mathematischen Armen machen.
Die vier Preisträger der Fields-Medaille, die Träger der Gauss-, Nevanlinna- und Chern-Preise werden
Weitere Kostenlose Bücher