Das leere Land
Sartre das geschafft hat, was mir nicht gelingt. Es ist die Stelle mit den bläulich schimmernden Bartstoppeln des Rollebon. Als wir Internatszöglinge Der Ekel lasen, das schwarze Taschenbuch mit der roten Titelschrift demonstrativ auf dem Pult aufgestützt zu Beginn der Religionsstunde, wenn Gattringer das Klassenzimmer betrat, der Sartre so sehr hasste, machte uns die maßlose Lust besoffen, mit der die Nacktheit der Existenz besungen wurde. Sprachlos war die Begeisterung, wir konnten es nicht sagen, aber fühlen, wie dieses Buch Last von unseren Knabenschultern nahm. Keinem Gott, keiner Kirche, keinem mit hoher Wahrscheinlichkeit eine latente pädophile Homosexualität bekämpfenden spätnachts die Schlafsäle durchstreifenden Präfekten stand ein Urteil zu über uns, und auch nicht die Autorität zu entscheiden, was wir zu tun und lassen hatten. Die kalt schimmernde Freiheit der reinen, leeren Existenz als einzige kompetente Instanz. Was das für eine Erlösung war in diesen ständig einen blutüberströmten halb nackten Erlöser anwinselnden Jahren!
Jetzt beneidete ich Sartre um Sätze wie diesen: Wie kann ich hoffen, die Vergangenheit eines anderen zu retten, ich, der ich nicht die Kraft aufbringe, meine eigene Vergangenheit festzuhalten? Ich wünschte, ich könnte Severinus darstellen wie er es mit dem kleinen Aufschneider Rollebon gemacht hat, dem Lügner und Kirmesgauner. Oder mit dem Autodidakten, dem ich mich auf eine fröstelnd kühle Art verbunden fühle. Doch die entscheidende Stelle ist der eine Satz über das kleine Runzelgesicht des Marquis, das ein sauberes, blatternübersätes Gesicht war: Seine Backen aber waren blauschwarz, denn er hatte einen starken Bartwuchs und wollte sich immer selbst rasieren, was ihm aber nur schlecht gelang.
Rollebon ist Fiktion, Severinus ist Fakt. Ich weiß es, ich habe die Kartusche im Museum zu Künzing berührt, in der ein kleines Knochenstück aus seinem heiligen Leib steckt. Aber das Äffchen Rollebon wird lebendig, sobald man die Seiten aufschlägt. Als ich Der Ekel nach so vielen Jahren wieder las, war es, als träte dieses durchtriebene, gefinkelte kleine Männchen heraus aus dem Buch, würde ein Mitbewohner im Kinderzimmer, in das ich mich erneut verbannt hatte. Und es wird intensiver, je öfter ich die Stelle lese. Der Heilige Seher von Noricum bleibt Papier, ein Blatt Papier, beschrieben von vielen Schreibenden und anschließend zusammengefaltet zu einem schlampig ausgeführten billigen Origamitrick.
Dasselbe bei Johann Georg Kohl, ich beschrieb ihn anhand des bekannten Fotos, das praktisch alle – ohnehin so wenigen – heutigen Publikationen ziert, ich stilisierte mich zu seinem Wiedergänger anhand seiner hängenden Augenbraue und wusste, dass ich nichts mit ihm zu tun hatte. Ich bin kein Wiedergänger, ich möchte es nur sein. Ausschlaggebend war der erste Satz, den ich gelesen habe von seiner Hand: Meine Ohren hatten schon frühzeitig das Wort Polyhistor aufgefangen, und ich hörte mit Entzücken von Menschen, die versucht hatten, den Umfang des ganzen menschlichen Wissens zu erschöpfen.
Das wäre es. Polyhistor sein. Natürlich ist mir bewusst, dass dies unmöglich ist. Schon zu Zeiten Kohls war es eine Unmöglichkeit. Das hatte er selbst gewusst und es in den nächsten Satz geschrieben. Doch in den übernächsten Satz stemmte er wie eine trotzige Verlautbarung den Entschluss, niemals aufzuhören damit, dem Phantom, das ihm vorschwebte, nachzujagen.
Ich jagte nichts nach. Ich saß Nacht für Nacht in meinem alten Zimmer und schwafelte herum im Aufsatz und in den Gegenberichten. Das Abendrot des Imperiums neigte sich dem Ende zu, schrieb ich, eigentlich war die Nacht schon angebrochen, doch die Untergehenden wollten es nicht wahrhaben. Die gewaltigste Machtverschiebung aller Zeiten war beinahe abgeschlossen, doch die Witwen und die leer ausgegangenen Erben taten so, als wäre noch alles beim Alten. Rom war seit Ewigkeiten alles gewesen. Barbarenland, dessen einzelne Provinzen zu benennen den Römern der Aufwand nicht lohnte, war nur der Rest gewesen.
Jetzt aber begann der Aufstieg des Restes, Gotenland, Germanenland, Chinesenland, Inderland, Brasilianerland und der mordenden Mauren Land erhoben sich, gar nicht zögerlich, schrieb ich in den Notizblock und setzte gleich dazu: zu platt, zu kurzschlüssig. Und schrieb weiter, darüber, dass am Ende immer Witzfiguren auf den Thronen sitzen, die Kaiserleins und Mister Presidentleins mit ihrem
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