Das leere Land
unten am Fuß des Kreuzes.
Dann haben sie salutiert, sagte meine Mutter, dann haben sie etwas gesungen, dann haben sie in die Luft geschossen. Dann hat der Lehrer, den sie als provisorischen Bürgermeister eingesetzt haben, erklärt, dass jeder, der sich an den Gräbern oder Kreuzen vergreifen würde, mit der Todesstrafe zu rechnen habe. Dann haben sie alle Männer, von denen der Lehrer angegeben hat, dass sie Nazi waren, einzeln vor den Gräbern aufgestellt und salutieren lassen. Wir Frauen mussten antreten in geraden Reihen und still sein. Wir sollten sehen, wie unsere Männer gedemütigt werden. Die Russen haben sie angetrieben mit ihren Maschinenpistolen. Ich höre es heute noch, ihr Geschrei. Dawai, dawai.
55
Das Missabikongmädchen vom Balkan hatte um ein Treffen gebeten, in Linz, Café Schillerpark. Sie wolle sich entschuldigen, sagte sie, wegen der Sache auf dem Pfarrplatz. Frisch und gut aufgelegt sah sie aus, hatte ihre dunklen Haare hochgesteckt und den Schweif zusammengebunden zu einem Knoten. Sie habe die Nerven verloren, sagte sie, jetzt tue es ihr leid, aber sie habe auf einmal so eine Art von Panikanfall bekommen. War nicht gut drauf an dem Tag. Entschuldigung angenommen, sagte ich. Und: Brauchst du Geld? Sie winkte lachend ab.
Ich zeigte ihr den Lokalteil der Zeitung, in der ich gelesen hatte während des Wartens. In Steyr hat ein Afrikaner versucht, sich selbst abzustechen, mitten auf dem Stadtplatz. Der kommt nicht auf die Titelseite. Nicht einmal auf die erste Seite im Lokalteil.
Pech für ihn.
Wahrscheinlich hat er gesehen, wie sie alle hysterisch geworden sind nach deiner Selbstmorddrohung. Und hat sich gedacht, wenn er das auch tut, würden sie seine Abschiebung stoppen. Er hat nur auf eins vergessen.
Nämlich?
Er ist nicht weiß und nicht jung und hübsch und adrett wie du.
Ich bin die nicht, grinste sie.
Dann rührte sie in ihrem Eiskaffee herum, zerquetschte die Vanilleeishalbkugeln an der Innenseite des dicken Glases, mag es, wenn das Eis beinahe flüssig ist, dann schmeckt es am besten, sagte sie. Wir schwiegen eine Weile. Sie fragte, was mein Job mache, ich erzählte etwas von den Herulern und den Römern und den Rugiern, die sich einst die Schädel eingeschlagen hatten hier in dieser Gegend, und wie sich unmerklich eine Welt aufgelöst hatte damals. Und wie Imperatoren dabei geschrumpft seien wie das Vanilleeis in ihrem kalten Kaffee.
Klingt ziemlich langweilig, sagte sie.
Nicht wenn man die Fäden sieht, die sich durch die Zeiten ziehen.
Gibt doch keine Imperatoren mehr.
Die heutigen Imperatoren sind die Basari, sagte ich. Die Beherrscher der Märkte. Die Händler und die Geldverleiher, oder in umgekehrter Reihenfolge. Wenn man als das entscheidende Kriterium für imperiale Macht die Möglichkeit versteht, jedes Staatswesen auf Erden zwingen zu können, seine Verfasstheit nach den Bedürfnissen des Imperiums einzurichten, dann gibt es jetzt nur noch ein Imperium. Den informellen, an Institutionen vorbeiagierenden Zusammenschluss der Akteure und Profiteure des globalen Geldflusses.
Klingt sehr wichtig, sagte sie.
Ja, sagte ich. Die Geldverleiher und die Kaufleute sind es.
Wenn du nicht so geschwollen daherreden würdest, wäre es wie Urlaub, sagte sie, im Hotel sitzen, Eiskaffee trinken, die Sonne scheint.
Wo machst du sonst Urlaub?, fragte ich.
Hier und da. Wie es sich ergibt.
Wo war der letzte?
Italien, sagte sie. Italien, ja. Es war so schrecklich kalt. Im Oktober wird es nachts ungeheuer kalt, auch an der Adria. Wir sind beim Autostoppen hängengeblieben auf einem Parkplatz. Die ganze Nacht diese vielen Lichter von der Autostrada. Wir müssen noch tiefer hinein in die Büsche, hat der Mani gesagt, als die Lastwagen in den Rastplatz reingekommen sind.
Mani, ist das dein Freund?
War es, sagte sie. Ihre Stimme wurde monoton und leise. Ich hatte plötzlich diese Angst vor Schlangen wieder. Wach auf Mani, da bewegt sich was. Am Meer, sagte er, am Meer wird es wärmer sein, der Scheißwinter kann uns vergessen. Eigentlich wollten wir ja nach Griechenland, aber das Geld aus dem Nachtkasten seiner Alten war schon futsch, bevor wir das Meer gesehen haben. Was ich für eine Angst hatte vor Grenzkontrollen! Ist doch EU , sagte Mani, aber das half nichts.
Nimm nur einmal Bush und seine Politikerfreunde, sagte ich, und seine sogenannten Berater, also seine Mitregenten. Die sind beides, Politiker und Händler. Darum sieht es so aus, als handle es sich bei diesem
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