Das leere Land
einem Darm, in dem noch die Gülle von tausend Jahren aus den gerade vergangenen zwei Dezennien gärt.
Germanentum als Gabe Gottes an die hellenische Welt der klassischen Antike, so was veröffentlichte Dörfler drei Jahre, nachdem der Versuch des Germanentums, die ganze Welt in Besitz zu nehmen, gescheitert war, Dörfler, der doch wissen musste vom nahen Hartheim und noch näheren Dachau. Möglicherweise hat er es geschrieben, als die selbst ernannten hakenbekreuzten Rechtsnachfolger der von ihm besungenen Germanenrasse noch an der Macht waren, und er und seine Verleger sahen keinen Grund, diese wohlformulierte Passage aus dem Text zu nehmen.
Am besten wäre es, wenn man das alles vergessen könnte, sagte meine Mutter plötzlich, und ich fühlte mich unter Druck gesetzt, irgendetwas verlangte sie da jetzt von mir, ich war unsicher, ob sie es ernst meinte. Sie verlangte, dass ich etwas wegwerfe, das wichtig ist. Erinnerung. Immer hat sie Unmögliches von mir verlangt. Letzten Endes, dass ich dafür sorgen soll, dass sie glücklich ist, aber sie hat dieses ihr Verlangen nie ausgesprochen, hat es als unterschwellige, verklausulierte Aufforderung an mich gerichtet, keinen Widerspruch zulassend. Jetzt sagte sie klar, laut und eindeutig, was sie wollte. Was soll das bedeuten? Dass es nicht wirklich gilt? Ach, vergiss es einfach, sagte ich mir.
Im Februar, fünfundvierzig, weißt du, wie sie gesehen haben, dass die Ami immer näher kommen, haben sie uns heimgeschickt, sagte sie. Da war es schon ganz arg mit den Angriffen. Ich kann mich erinnern, in Hannover, in den Bahnhof, wie wir eingefahren sind, ist so ein gewaltiger Angriff gewesen. Der Koffer ist nie angekommen, klar, es ist ja schon alles drunter und drüber gegangen. Und daheim in dem Dorf, das so nahe bei Linz und seinen Göring-Werken stand, sei es genauso weitergegangen. Das hat es damals ja nicht gegeben, dass einer nur einen Tag nicht arbeitet, sagte sie mit leichter Entrüstung, beschrieb, wie sie sich gleich beim Arbeitsamt melden musste und umgehend eingeteilt wurde, als Hilfsarbeiterin in der Linzer Solo-Fabrik, schon wieder so ein Monument der Industrialisierung, das die Linzer Sozialdemokraten bedenkenlos abgerissen haben. In der Solo war so ein Kriegsding eingerichtet, sagte sie, Gasmaskenerzeugung, die waren irgendwie vorgefertigt, und wir haben am Schluss den Zusammenbau machen müssen.
Nie sagte sie ich, immer nur wir. Wenn die Bomber gekommen sind, haben wir zu einem Keller in Gaumberg rennen müssen. Wir sind oft gerannt, weil die Solo war ja gleich beim Bahnhof, dauernde Angriffe. Wie die Ami schon in der Nähe waren, haben wir stundenlang vom Dorf in die Arbeit zu Fuß gehen müssen, es gab keinen Verkehr mehr, nichts mehr ist nach Linz gefahren.
Der Onkel, sagte ich. Dein Lieblingsbruder.
Ach ja, sagte sie, von dem wollten wir ja reden. Und dann erzählte sie lapidar eine kurze Geschichte, viel zu ungerührt für meine Erwartungen. Wie er in Detmold ausgebildet wurde, ruck zuck, vier Wochen nur. Wie er sich bei dieser Ausbildung etwas zugezogen haben muss, Genaueres wisse man nicht und werde man nie erfahren. Wie die Familie daheim gerade eben erfahren habe, dass er im Krankenhaus liege, aber nicht wo und warum. Wie es überhaupt keine Verbindung mehr nach Deutschland gegeben habe, als dann der Krieg aus war, und wie sie wochenlang nichts von ihm gehört hätten. Es hat einen niemand verständigt, sagte sie, und: Wir haben immer geglaubt, er ist in Gefangenschaft, und das war er auch, das waren Engländer, die haben das Lazarett übernommen.
Irgendwann sei die Post wieder gegangen. Da schrieb sie dem Robert einen Brief. Sie sah hoch und sah mich an, sagte: Das war der Freund von meinem Bruder. Mit dem war ich recht gut. Was für eine seltsame Formulierung. Und wie seltsam sie mich dabei anschaute, als wollte sie sich vergewissern, dass ich mich mit dieser Formulierung zufriedengeben und nicht nachfragen würde. Es gab einen Briefverkehr mit dem Robert, sagte sie schnell, und der hat dann herausgekriegt, in welchem Lazarett er liegt. Detmold.
Dann stöhnte sie und schwieg eine Weile, dann rief das Wasserluchsweibchen aus Wien an, dann sagte ich, dass wir für heute aufhören müssten. Mein Gott, wie lange die schon alle tot sind, sagte meine Mutter leise, als ich den Minidiscrecorder wegräumte. Die Toten verschwinden nicht, wollte ich antworten, sie wirken weiter in die vielen nachfolgenden Gegenwarten. Man kriegt sie nicht los. Nicht
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