Das leere Land
Severinus die Tränen in die Augen, er weine, sagte er, da er ein fürchterliches Unheil kommen sehe, Christi heilige Stätten würden bald schon dermaßen von Menschenblut triefen, dass diese Stätte hier, das Baptisterium, die Taufkapelle, entweiht würde. Und bestieg ein Schiff und fuhr donauabwärts nach Mautern, das noch sicher war.
Und siehe, kurz darauf überfiel ein gewisser Hunumund mit einer kleinen Schar von Barbaren, man weiß nicht welchen Stammes, wahrscheinlich Alemannen oder Thüringer, Passau und erschlug alle Zurückgebliebenen, und der Presbyter, der so gotteslästerliche Reden geführt hatte, flüchtete in eben jenes Baptisterium und starb dort einen grausamen Tod unter den Schwerthieben der Barbaren. Eugippius kommentiert dies mit einem Anflug von Zynismus: Da er Gott beleidigt hatte, suchte der Feind der Wahrheit vergeblich Schutz.
Wenig später gaben die Romanen Quintanis auf, das Zweifluss-Städtchen Künzing, die Bewohner flohen und ließen sich im verlassenen Passau nieder, doch dies erkundeten die Barbaren umgehend, der Heilige Mann betete unermüdlich mit ganzer Kraft und sonderte eine Prophezeiung ab: Den ersten Ansturm der Wilden würden sie abwehren können, wer dann aber seinen Ermahnungen nicht folge und in der Stadt bleibe, werde umkommen. So kam es auch. Einen Angriff der Alemannen auf Passau wehrten die Künzinger ab. Severinus warnte und mahnte, dies sei kein Sieg gewesen, bestenfalls die Erzwingung einer kurzen Waffenruhe, die genutzt werden müsse, um geordnet umzusiedeln, Mensch und Tier und Hab und Gut donauabwärts zu schaffen. Die meisten hörten auf ihn, etliche aber zeigten sich widerborstig. Und wurden noch in derselben Woche von einer angreifenden Horde von Thoringi, Thüringern, niedergemetzelt. Das zweite Passauer Massaker, so nenne ich es der Einfachheit halber, ganz korrekt ist es nicht, weil auf dem Gebiet des jetzigen Passau genau genommen damals zwei Ortschaften existiert hatten, Batavis in der Gegend des heutigen Domes, das östlichste Kastell der Provinz Rätien, und Boiotro in jener Gegend, die wir Passau-Innstadt nennen, das westlichste Kastell der Provinz Noricum. Von West nach Ost die Donau hinunter flutete das Morden und Städteverbrennen, und Severinus praktizierte weiter seine Zaubertricks wie ein Besessener, als ob er damit das Zerbrechen aufhalten könnte, das Versinken von fünfhundert Jahren Romanentum in einer Orgie von Niedermetzeln und Rauben und Vergewaltigen.
Auf der Westautobahn, auf dem Weg zum Wasserluchsweibchen, die untergehende Herbstsonne tauchte Stift Melk in ein rosarotes Glänzen, überfiel mich die Sehnsucht, ich könnte über sie schreiben statt über die Heiligenlegende, die am Ende zu einer banalen, blutigen Vernichtungsgeschichte geworden war, könnte ihre Geschichte erfahren und dann festhalten, wo sie geboren worden, wie sie nach Österreich gekommen war, wie es ihr hier ging. Das wären Geschichten, die ich schreiben möchte, statt jene über das ganze Römerzeug und Heiligenzeug. Dann könnten alle erfahren, dass es mitten unter ihnen welche gibt, die ein Leben leben, von dem sie nicht glauben, dass es eine solche Art zu leben gibt. Ein Lebenmüssen, das sie sich nicht einmal vorstellen können.
Und musste lächeln, weil ich sicher war, dass mir Trixi nichts würde erzählen wollen, wenn das dann veröffentlicht werden sollte, damit andere etwas sehen und erfahren können, das sie noch nicht wussten. Ich bin kein Affe im Zoo, an dem die ihre Freude haben können, wenn sie ihm zuschauen, würde sie zu so einem Ansinnen sagen.
Sie hatte recht. Ich bin wie Kohl. Der geht hin zu den Indianern und beobachtet sie und hört sich ihre Geschichten an und begutachtet ihr Wohnen und Werken und wie sie ihre Tage verbringen, und dann malt er das bunt und farbig aus mit seiner Sprachkunst, damit er eine große Leserschaft findet für seine Berichte. Aber er bleibt ein Fremder, der etwas sieht, das er nicht versteht, und sich darauf aus sich selbst heraus einen Reim macht und naturgemäß am Ende nur das beschreibt, was in ihm selbst drin ist.
Ich reise, wie Kohl, in das Herz eines Kontinents, der ein fremder ist, obwohl ich hier geboren bin, und beobachte das Wohnen und Werken und Freizeitverbringen der Einheimischen und stöbere in Archiven und Büchern und im elektronischen Weltlexikon ihren Geschichten nach, den eineinhalb Jahrtausende alten in meinem Fall, und verfasse dann meine Berichte, farbig und fein ziseliert, auf dass der
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