Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das leere Land

Das leere Land

Titel: Das leere Land Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Walter Kohl
Vom Netzwerk:
den fetten Hermann im Falle von Linz mit seiner Schwerindustrie, nicht den Heiligen Severinus, der barfuß durch die Wälder gestreift ist die Donau entlang, sommers wie winters, nicht Stefan Fadinger, den sie mit Armbrustpfeilen waidwund geschossen haben vom Sitz der Landesregierung aus, nicht Adalbert Stifter in seiner bedrückenden, deprimierenden Biedermeierwohnung, wo er sich erfreute am ach so seltenen und kurzen Aufblühen des Trompetenkaktus’, jedoch nie jemanden fand, der diese Freude mit ihm teilen wollte, sodass er sich entschloss, beim Rasieren zu verunglücken, den nachfolgenden struppigen, einsamen Steppenwölfen ein Beispiel. Das hätte ich ihr sagen sollen, tat es aber nicht.

71
    Diesmal fühlte ich mich diesen Dingen nicht gewachsen, schrieb Johann Georg Kohl, als er die große Kaiserstadt Wien vom Leopoldsberg aus betrachtete, wo sie ihm vorkam wie ein riesiger Ameisenhaufen, in dessen Mitte eine hohe Stange, der Stephansturm, aufgesteckt war. Nicht gewachsen war er den prachtvollen Sammlungen und Bibliotheken der Stadt und dem kaiserlichen Schloss, was er alles früher schon besucht hatte. Diesmal wollte er sich auf Kleinigkeiten konzentrieren und unbetretene Fuß- und Nebensteige gehen. Denn, so Kohl: Paläste und Hütten sind beide in ihrer Art lehrreich!
    Ich fühlte mich ebenfalls den Dingen nicht gewachsen. Ich stand am Hotelzimmerfenster und schaute hinaus in die dunkle Nacht, wenn man sich weit aus dem Fenster lehnte, sah man ein Stück des Westbahnhofs, das Missabikongmädchen schlief auf dem vom Fenster weiter entfernten Bett, da fühle sie sich sicherer, hatte sie gesagt, falls jemand hereinklettern würde, wäre ich auf dem fensternahen als Erster dran. Sie machte leise Geräusche, kein Schnarchen, es klang eher wie das unregelmäßige Ächzen und Wimmern eines abgeschundenen, immer zu wenig Schlaf erwischenden Arbeitstieres.
    Es ist eigentlich zu spät, um noch zurück nach Linz zu fahren, hatte ich gesagt im Kaffeehaus vis-à-vis des Westbahnhofs, nehmen wir uns ein Zimmer, hatte sie gesagt, gleich mein Erschrecken bemerkt und schnell gesagt, dass eh nichts passieren werde. Versprochen! Also checkten wir ein im Hotel daneben, Doppelzimmer mit getrennten Betten, gingen hinauf in das muffelige, nach uraltem Staub riechende Zimmer. Sie kroch sofort ins Bett, praktisch seit zwei Tagen auf den Beinen, kaum geschlafen, murmelte sie, es war mir recht. Ob es ihr was ausmache, wenn ich noch auf einen Sprung hinunterginge ins Café Westend, schon in Ordnung, sagte sie, nimm dir den Schlüssel mit, und zog die Decke über den Kopf.
    Und ich saß vor einem Glas Weißwein am abgenutzten Kaffeehaustisch und machte mir vor, ich sei ein Mann von ethisch-moralisch einwandfreiem Verhalten, weil ich die Situation nicht ausnützte, beim zweiten Glas gestand ich mir ein, dass es der Zucker war, beim dritten, dass der Zucker nichts anderes war als das gegenständliche Korrelat für meine hartnäckig zunehmende Angst vor dem Versagen. Ich liege nicht deswegen nicht bei ihr, weil ich ein guter Mensch bin, sondern weil ich befürchte, die Zuckerkrusten in meinem Penis könnten mich blamieren. Und die ganze Zeit flirrte und zitterte es in mir, das Begehren, die Vorstellungen von ihrem Hintern, ihren Achselhöhlen, ihrem Duft von Milch und Schweiß und billigem Teenager-Deo machten mir den Mund wässrig wie einem altersschwachen Berner Sennhund. Der Gedanke an die geschwungene Linie ihres Halbprofils, vom Ohrläppchen bis zum Kinn, ließ meine Hände zittrig werden, ich malte mir aus, mit zwei oder drei Fingern über diese Linie zu streichen, einen süßen, zarten Flaum stellte ich mir vor, nicht wahrnehmbar für den Sehsinn, nur für den Tastsinn.
    Ich kramte den Notizblock hervor, kritzelte als Stichwort für den Gegenbericht hin und notierte ein paar Zeilen. Nicht Severin ist ein Idiot, ich bin der Idiot, schrieb ich, ja, Severin schrieb ich, nicht Severinus, und nahm mir vor, morgen als Erstes im Word-Dokument des Aufsatzes mit der Alle-ersetzen-Funktion Severinus durch Severin zu ersetzen. Natürlich habe ich es nicht getan, zumindest nicht nachhaltig, nur einmal, probeweise, Suchbegriff hundertachtundzwanzigmal ersetzt, meldete das Textprogramm. Im Café Westend war ich noch entschlossen, die Änderung zu belassen. Weil mein Zugang nicht mehr haltbar war. All die Schichten, die ich übereinandergestapelt hatte, ergaben zusammen nicht mehr als die Summe des Geschichteten. Eher weniger. Dennoch machte ich

Weitere Kostenlose Bücher