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Das leere Land

Das leere Land

Titel: Das leere Land Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Walter Kohl
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Westroms waren, in der Gestalt von Piuda Reiks, Volkes König, wie ihn die Seinen nannten, die wir kennen als Dietrich von Bern oder, historisch korrekter, als Theoderich, größter der Gotenkönige und Beherrscher Italiens von Konstantinopels Gnaden. Diese grausamen und leicht reizbaren neuen Herren in seiner Geschichte schlecht aussehen zu lassen, das wagte Eugipp nicht.
    Auf der allerersten Seite der Vita verrät ihr Autor alles. Er will es uns als Wundertat verkaufen, das einleitende Mirakel, das Erscheinen des Heiligen Mannes vor dem Vorhang in Glanz und Gloria. Dabei war es simple Verwaltungspolitik. Severinus war der Mann des Flavius Orestes im Norden, der wahre Statthalter, die graue Eminenz. Das, was Ratzinger für Jahrzehnte für die katholische Kirche war, bevor er am Ende, zur Versüßung seines Altenteils, und als Lohn für Diskretion und konsequentes Strippenziehen im Hintergrund, auch noch formell die Würden des höchsten Amtes verliehen bekam von den Seinen. Severinus war der, der Bescheid wusste. Jahrzehntelang hatte er mit Männern höchsten Ranges aus allen Völkerschaften verhandelt, mit ihnen Politik getrieben oder sie in Schlachten bekriegt, Hunnen, Ostgoten, Rugier. Er musste Informationen gehabt haben über kurz-, mittel- und längerfristige Pläne und Strategien der Barbaren. Oder es war ihm einfach klar aus den Erfahrungen seiner militärischen Vergangenheit, dass Asturis das logische Ziel der Goten war, die in jener Zeit, nach einem Jahrzehnt des Festsitzens in Pannonien, wieder einmal in Bewegung geraten waren.
    Das nächste Wunder ist nicht wirklich eines. Ich nenne es das kleine Wunder. Eigentlich erstaunlich, dass Severinus es als Wundertäter zu so großem Ansehen gebracht hat. Denn bei jenem Wunder, das das wichtigste ist, hat er versagt. Das wichtigste Wunder ist das zweite Wunder. Beim ersten hast du sie noch alle auf deiner Seite, da sind sie überwältigt, da stehen ihre Mäuler offen, und sie können es nicht fassen, aber zugleich ist es noch sehr einfach, sich zu entscheiden: Applaudiere ich dem wundertätigen Mann, oder bewerfe ich den Gaukler mit Dreck? Ein Wunder ist nichts, da kann man noch mit dem Zufall argumentieren, das kann man als Zeuge noch auf die eigene Übermüdung und Überreiztheit schieben, die einem physikalisch Unmögliches vorgaukelt, und meinetwegen war es das eine Bier zu viel am Vorabend, das einen jetzt die Augen reiben lässt und einen unsicher macht, ob man noch besoffen ist oder ob das wirklich wahr ist, was man wahrnimmt.
    Beim zweiten Wunder ist dieser Bonus weg. Das zweite Wunder ist das entscheidende. Das zweite Wunder muss Hand und Fuß haben, muss wirklich überzeugen, muss jeden in den Bann ziehen, muss machen, dass sich die Spötter und Dreckschleuderer schämen und betreten wegschleichen oder überlaufen und sich mit der fanatischen Begeisterung der Bekehrten zu den Jublern und Bravo-Schreiern gesellen. Severinus’ zweites Wunder war in diesem Sinne ein Flop.
    Das Kastell Comagenis, bei dem es sich um Tulln handelt, war de facto in der Hand von Barbaren. Wahrscheinlich Goten, vielleicht auch Rugier, Eugipp verschweigt die Stammeszugehörigkeit. Es muss eine schizophrene Situation gewesen sein: Die romanische Bevölkerung hatte sich offensichtlich vertraglich den Besatzern unterworfen, als Gegenleistung sorgten diese für Schutz und Sicherheit. Germanen schützten die Romanen vor Germanen. Wie an den Großen Seen in Nordamerika in den Wirren der Kämpfe zwischen Franzosen und Engländern, wo sich die Europäer gegeneinander und gegen die Eingeborenen nur behaupten konnten, indem sie mit den dortigen Barbaren Waffenbündnisse eingingen.
    Die Barbaren kontrollierten die Zugänge zur Stadt Tulln auf das Strengste. Dennoch ging Severinus hinein, als ob er unsichtbar gewesen wäre. Das ist das zweite Wunder. Lachhaft. Natürlich hatten ihn die Torhüter erkannt. Das geistliche und weltliche Oberhaupt der Romanen war eingetroffen in der besetzten Stadt. Den Besatzern war er vertraut, wozu also hätten sie ihn kontrollieren sollen. Wahrscheinlich war sein Kommen erwartet worden, war er als Führer von Verhandlungen angekündigt worden.
    Das dritte Wunder dagegen ist geeignet für pralles lebendiges Erzähltwerden: Wenn ihr euer Leben nicht als ein gottgefälliges führt, ist der Untergang besiegelt, donnert der Heilige Mann in der Basilika von Tulln, die Bürger im Kirchengestühl sehen hoch, aber nicht geängstigt und erschreckt, sondern bloß

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