Das leere Land
Winternächten. Denn einer, der weggeht ganz allein, noch mehr Kind als Mensch, und verschwunden bleibt über Wochen, Monate, ohne Proviant, ohne Waffen, ohne Zunder und Feuerstein, der kann kein Tier erlegen draußen in der Wildnis und es zubereiten. Kann nur seine Brüder und Schwestern zu Tode würgen und ihre Haut aufreißen mit den Zähnen und ihr rohes Fleisch verschlingen.
Das Kind, das wegläuft, ist bei Kohl ein männliches Kind. In meinem Fall ist es ein weibliches Kind. Wie sie gehockt war auf dem nassen Asphalt und mich angestarrt hatte, da war sie wie Missabikong gewesen, Junge aus Eisen gemacht, so zäh und hart und unverletzlich, und weil sie kein Junge ist, eindeutig nicht, muss sie Missabikong-kwe heißen, Mädchen gemacht aus Eisen.
Kohl ist sehr verliebt in die Objekte seiner Beschreibung, in die Anishinaabe und Ojibbeway und Makwa. Wenn sie ihm erzählen von den Windigos, den Verrückten, die so verrückt sind vor Einsamkeit und Hunger, dass sie beginnen, Menschen zu fressen, und nicht mehr aufhören können damit, dann sucht er wortgewandt Erklärungen und Verständnis. Dass es unter den nordamerikanischen Stämmen eigentlich niemals in ihrer Geschichte zum Phänomen der Anthropophagie gekommen sei, betont er gleich am Beginn des entsprechenden Kapitels.
Doch komme es manchmal vor, als Teil barbarischen Brauchtums der Kriegsführung und ausgelöst vom wildesten Rachedurst dieser Menschen, das jemand ein Stück Fleisch eines getöteten Feindes verschlucke. Und in den öden und armseligen Landstrichen komme es vor, das jemand so sehr zurückgeworfen sei auf den bloßen Kampf gegen das Verhungern, dass er den Mithungernden an seiner Seite auf einmal nur noch sehe als Fleisch, als ein Stück Wild, das er wie solches erlege, zerteile, ein Stück esse und die weiteren Stücke im Schnee vergrabe, um durch den Winter zu kommen.
Windigo nennen die Ojibbeway jene aus ihren eigenen Reihen, die zu Kannibalen werden. Sie fürchten sie zutiefst. Sie verstoßen sie, was den Windigo oder die Windigo-kwe zwingt, weiter und weiter Menschenfleisch zu essen, wenn es gelingt, welches zu finden. Denn Menschen sind wesentlich leichter zu erlegen als Wildtiere. Es genügt nicht, einen Windigo, der einen angreift, zu töten mit dem Messer oder Pfeil oder einer Gewehrkugel. Man muss seinen Leichnam in Stücke schneiden, sonst besteht die Gefahr, dass er wieder zum Leben erwacht.
Mit einem kleinen Schlenker bricht Kohl das Grauen, nachdem er die Menschenfresser-Geschichten seinem erlauchten Publikum zur Kenntnis gebracht hat. Es sei nur natürlich, dass in einem Land, das seinen Bewohnern fast ausschließlich grausame und harte Lebensumstände beschert und in dem die Menschen so sehr zu Fantasieren und Glauben an Träume neigen, alles rasch in Aberglaube abgleite. Und dass dies wunderliche Geschichten hervorbringe, wie jene von den Windigos. Die faszinierenden Wundergeschichten ihrerseits erzeugten zu guter Letzt tatsächlich Windigos. Wie es ja auch bei uns gewesen sei, schreibt Kohl, in unseren Mittelaltern, wo der Glaube daran, dass es Hexen gibt, Hexen produziert habe. Oder, notiert er lakonisch, man denke an die Leiden des jungen Werther , das Selbstmörderbuch, das Selbstmörder produziert habe in großer Zahl.
Missabikong war ein Knabe, der seinem Vater ständig weggelaufen war. Zuerst für einen Monat, im Jahr darauf für den ganzen Sommer. Ohne einen einzigen Ausrüstungsgegenstand. Nur geleitet von einem Traum, der ihm befohlen hatte, nach Osten zu gehen, wo sich die Sonne aus dem Wasser erhebt. Später, zum Mann geworden, verließ er regelmäßig den Stamm und machte sich auf einsame Wanderungen, nie erzählte er jemandem, was er dabei erlebte. Er sank tiefer und tiefer in einen Zustand von Wildheit, schreibt Kohl, die anderen fürchteten ihn, er fürchtete die anderen. Nicht lange, so sagten die Weisen voraus, und er werde beginnen, Menschen zu essen.
Mishi Bizhi ist die, die weggelaufen ist. Darum fürchten sie sie. Weil sie Missabikong-kwe ist, Mädchen Aus Eisen. Weil sie mit ihrem Abhandenkommen bewirkt hat, dass man sie und die Ihren nicht mehr übersehen kann. Der Innenminister fürchtet, aus diesem Eisenkind vom Balkan könnte ein Windigo werden, der ihn und seine schmallippigen Komplizen auffressen wird. Darum suchen sie nach ihr mit so großer Anstrengung, darum werben sie mit falschen Zungen, sie möge ihr Versteck verlassen und sich stellen, versprechen schmeichlerisch, dass man alles tun
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