Das leere Land
Schriftsteller eine kurze Glosse über den Fall des untergetauchten Asylantenkinds. Er sah das Zeitalter des Populismus auf seinem Höhepunkt angekommen. Politiker hätten aufgehört, Politik zu machen, sondern schüfen sich, wie in gegenständlichem Falle etwa, Privatbühnen, auf denen sie ihre eigene Profilierung und damit die Chancen auf Wiederwahl zu befördern suchten. Seine eigene Privatbühne, die seriöse Tageszeitung, erwähnte er nicht.
Im Wirtschaftsteil derselben Zeitung gerieten die Redakteure über der Causa Linzer Tabakfabrik in ein Populismus-Dilemma. Sie produzierten ein wenig Entrüstung über den Verlust von Arbeitsplätzen in Oberösterreich. Zugleich kommentierten sie den Umstand, dass die neuen japanischen Eigentümer sich für Hainburg als Schwerpunktstandort entschieden hatten, mit erkennbarer Zufriedenheit. Da es sich um eine Wiener Zeitung mit eher bescheidenem Oberösterreich-Ressort und wahrscheinlich wenigen Lesern in Linz handelte, dominierte die Freude über den Auftrags- und Arbeitsplätzezuwachs im Wien-nahen Niederösterreich.
Ich fragte sie, was los sei. Sie redete herum, dass sie Schwierigkeiten mit der aktuellen Wohnmöglichkeit habe. Und punkto Job laufe auch gerade eine schwierige Phase.
Brauchst du Geld?, fragte ich. Würde das dein Problem lösen?
Lösen? Nein. Aber es würde die Dinge einfacher machen.
Es machte mir Angst, wie sie mich ansah dabei. Weil ich sie begehrte. Nach Jahren der Enthaltsamkeit rührte sich plötzlich etwas. Vergeblich sagte ich mir vor, dass sie ein Kind sei. Sie ist ein Kind. Sie ist ein Kind. Sie ist ein Kind. Sie lümmelte sich seitlich über die hohe Lehne des Sessels, streifte die Schuhe ab und nahm die Füße hoch. Die Wölbung da, das war die Hüfte einer Frau, wenn man darüber striche mit flacher Hand, käme man gleich zum Hintern, auch das eindeutig der Hintern einer Frau. Sie blickte mir in die Augen und fragte, ob es ein Problem für mich wäre, jemand Fremdem Geld zu borgen. Ihr gegenüber sitzend etwas zu fühlen, an Frauenfleisch zu denken, an Düfte von Achsel und Schoß, an Streicheln über zarten Unterarmflaum, löste eine milde Form von Panik aus.
Brauchst du Drogen?, fragte ich.
Sie setzte sich aufrecht hin, schlüpfte in die Schuhe, sah mich böse an und schwieg.
Vor fünfunddreißig Jahren oder mehr hatte da drüben einer meinen Vornamen geschrien, ich war über die Linzer Einkaufsmeile gebummelt, hatte gestoppt und mich umgesehen. Noch einmal schrie jemand meinen Vornamen, ich trat näher, jemand fragte, ob ich Drogen kaufen wollte.
Von dem Platz im hinteren Teil des Cafés, wo ich mit Trixi saß, war nur ein Teil des Schillerparks zu sehen. Die Bänke, auf denen vor dreißig oder vierzig Jahren die Drogenhändler gesessen waren. Der hässliche Reichhold, so hatten ihn alle genannt, Reichhold, der Hässliche. In meiner Erinnerung ist er gar nicht hässlich gewesen. Sein Fehler war, dass er keinen Vater gehabt hatte und seine Mutter die ortsbekannte Trinkerin war. Da kennt das Dorf keine Gnade. Da verzeiht es nichts. Alles, was dem Dorf auffällig wird, ist ihm als Erstes einmal nicht recht. Und was dem Dorf nicht recht ist, reibt es einem unter die Nase, ein Leben lang. Das Dorf vergisst nichts.
In den Jahren, als ich immer nachhaltiger mein Studium abbrach, streunte ich oft tagelang in der Stadt herum, schlug die Zeit irgendwie tot, war um halb neun weggefahren aus der elterlichen Wohnung mit der Angabe, den ganzen Tag an der Universität zu verbringen. Ich schlenderte vorbei am Schillerpark, jemand rief meinen Namen. Ich konnte nicht gleich erkennen, von wo es kam, ein langhaariger verwahrloster Mann unter den anderen Verwahrlosten auf der Parkbank rief meinen Vornamen, sah mich grinsend an, fragte, ob ich einen Trip kaufen wolle.
Reichhold. Zehn Jahre hatte ich ihn nicht gesehen, mindestens. Er war immer allein in der letzten Bank gesessen, alle vier Volksschuljahre lang. Einmal war er einen ganzen Winter hindurch in Holzpantoffeln, wie sie die Bauern grob schnitzen für die Stallarbeit, zum Unterricht gekommen, ohne Socken. Es ist ein schnell Schmerzen bereitendes Schuhwerk, die Sohle aus einem Stück Holz, der Vorfuß über Zehen und dem Rist aus hartem steifen Schweinsleder.
Die Lehrerin fragte ihn ein paar Mal, warum er keine Socken und keine ordentlichen Winterschuhe trage. Reichhold antwortete nicht, trotzig starrte er sie an und schwieg. Gegen Ende des Winters schleppte er jeden Morgen viel Schnee ins
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