Das leere Land
selbst nennen sich dort Die Menschen. Verstehst du?
Nein.
Mein Lieblingsvolk sind die Hasenfellmenschen. Hareskin Dene. Dene heißt Die Menschen. Sahtu Dene sind die Hasenfellmenschen. Git heißt Die Menschen. Git-Xsan sind Die Menschen Am Xsan, am Nebelfluss. Meine Lieblinge, die Hasenfellmenschen, leben aber so weit im Norden, da kommst du mit dem Auto nicht hin. Nur mit dem Flugzeug, und dann mit dem Skidoo oder dem Hundeschlitten.
Ob ich schon bei denen gewesen sei, fragte sie. Ich verneinte, erklärte ihr, dass ich bislang noch keinen Auftrag bekommen hätte, die Hasenfellmenschen betreffend, dass mir also noch keine Zeitung und keine Radiostation die Reise finanziert hätten und dass ich diese enorme Summe aus Eigenem nicht aufbringen könne. Bislang.
Darum sind es deine Lieblinge?, sagte sie. Weil du sie nicht kennst?
Sag mir, was du brauchst, sagte ich ärgerlich. Geld? Ich gebe dir Geld, wenn du es brauchst, und wenn du mir sagst, was dein Problem ist. Sonst nicht.
Hab Schulden beim Crackdealer, sagte sie, seine russischen Freunde machen mir mit der Bohrmaschine in jedes Knie ein Zwölferloch, wenn ich nicht bis übermorgen mit tausend Euro antanze. Sie grinste breit und unverschämt, die Haare fielen ihr wieder über das rechte Auge, sie wischte sie nicht weg, senkte ihren Kopf, dass die Strähnen nun beide Augen bedeckten, beugte sich vor, nahe zu mir, flüsterte mit gekünstelter Heiserkeit. Das glaubst du doch, oder? Und mit unflätig erotischer Kinderstimme: Bitte, bitte, muss unbedingt haben, bitte, gib mir. Dann warf sie den Kopf zurück, die Haare weg von ihrem Gesicht, sie lachte schallend. Hältst du mich wirklich für einen Junkie?
Wir schwiegen, lange. Sie holte ihr Handy heraus und fingerte daran herum. Mein Handy läutete, hörte wieder auf, ehe ich danach greifen konnte. Das war ich, sagte sie. Hab die Nummer nicht unterdrückt. Hast jetzt meine Nummer. Wozu?, fragte ich. Sie: Damit du siehst, dass ich nicht einfach so abhaue. Damit du weißt, dass die Kohle nur geliehen ist.
Ich nahm die Geldtasche aus der Jacke, legte zwei Zwanzig-Euro-Scheine und einen Zehn-Euro-Schein auf den Tisch. Sie stand auf, nahm die Scheine, steckte sie in eine Gesäßtasche ihrer Jeans und ging. Zwei oder drei Tische weiter drehte sie sich um, winkte zögerlich und sagte ein lautes Danke. Dann huschte sie durch die Glasschiebetüren hinaus in den Schillerpark. Nicht wie eine geschmückte Jungfrau, die ein Kriegsross führt, war sie hinausgeschritten. Sondern klein und ängstlich, sich gleich nach der Tür in alle Richtungen umsehend. Geduckt und zögerlich. Wie die Jungfrau allein im auf der Gischt tanzenden Kanu, das die Krieger an einem langen Seil mit sich führen durch die wilden Katarakte, den Feinden entgegen.
20
Schön und gescheit stelle ich sie mir vor, Procula, die reiche Witwe, heimliche Beherrscherin von Favianis in jenem grausamen Hungerwinter. Procula, was bedeutet Die Geboren Wurde In Väterlicher Abwesenheit, war schlau, als Einzige hatte sie vorgesorgt, nur noch ihre – gut getarnten – Speicher waren voll mit Getreidekörnern und Krügen feinsten Olivenöls, na ja, vielleicht nicht feinstes Öl, aber zumindest unverdorbenes, nicht ranziges, für den Verzehr geeignetes. Wir Heutigen würden sie loben, diese üppige Witwe mit den schweren, lockenden Brüsten, würden ihr hofieren, würden sie umwerben, ihr Mitgliedschaften antragen bei den Gesellschaftsvereinen der Kiwanis-Damen und bei diversen Leading-Ladies-Netzwerken. Denn sie tat, was in unserem Jahrhundert die höchste der Tugenden ist, gerühmt in Hochglanzmagazinen, mit Faszination und Neid zugleich betrachtet von den Prekariaten und Unterschichten: Sie machte Geld. Viel Geld.
Sie ließ die Körner im Speicher und das Öl in den Krügen, saß in ihrer Villa und wartete einfach nur. Dass der Hunger der anderen größer werde, dass die Preise steigen würden, dass die romanischen Mauterner und die in und nahe der Stadt lebenden sesshaften Barbaren sie anflehten, doch ihr Geld zu nehmen. Sie tat nichts anderes, als alle Welt tut heutzutage. Aus vermeintlich unberechenbaren Veränderungen von Rohstoffmärkten satte Gewinne lukrieren. Spekulationsgeschäfte betreiben. Nur übellaunige Kommentatoren und notorische Kritikaster würden sie eine Imperiumsuntergangsgewinnlerin schelten, alle anderen würden ihr bebildertes Privatleben in den Society-Formaten von Presse, Funk und Fernsehen verfolgen, würden ihr die schönsten
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