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Das leere Land

Das leere Land

Titel: Das leere Land Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Walter Kohl
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Klassenzimmer. Wenn der Schnee nass und pappig wird, bleibt er kleben am groben Holz der Sohle, wir Kinder schlüpften manchmal zum Spaß in solche Pantoffel, wenn sie eine Magd vor dem Haustor hatte stehen lassen, und stapften durch den Matsch, bis der zusammengepresste Schnee an den Sohlen so hoch wurde, dass wir nicht mehr gehen konnten und umkippten. Für Reichhold war es kein Spiel. Wahrscheinlich hatte seine Mutter, die Säuferin, keine Winterstiefel gekauft in der Größe, die er nun gebraucht hätte. Wahrscheinlich hat sie sogar das Geld für Wolle lieber versoffen, als ihm Strümpfe zu stricken, munkelten wir hinter seinem Rücken.
    Drei Monate lang kam er in die Klasse mit Klumpen schmelzenden Schnees an den Pantoffeln. Und auch an den Füßen, wenn es Neuschnee gegeben hatte und er bis über die Knöchel darin versunken war. Im überheizten Klassenzimmer wurden seine kalten leichenweißen Füße zuerst blau, dann knallrot. Alle starrten wir die ganze Zeit auf seine Füße. Und auf die Schmelzwasserlache unter der Bank.
    Die weichen Mokassins mit garantiert hohem Gehkomfort an meinen Füßen unter dem Kaffeehaustisch fühlten sich plötzlich kalt und schwer an, die Zehen klamm und steif. Blau und rot und klitschnass vom schmelzenden Schnee. So fühlte es sich an, obwohl es ein warmer Septembertag war und die Sonne schien. Ich hatte zu Reichhold auf der Parkbank hinübergewunken damals, halbherzig Zeige- und Mittelfinger gereckt für ein schlampiges Victory-Zeichen und dabei so etwas wie no drugs gemurmelt. Dann war ich schnell weitergegangen, als ich merkte, dass er mit mir reden wollte.
    Plötzlich leierte in meinem Kopf die Stimme der Teufelseiche etwas herunter, mit einem bösen, spitzen Klang, der Lustigkeit vortäuschen sollte. Der Alte aus Kanada ist geil wie ein Specht, aber traut sich nicht sagen, was er gern möcht. Und fort fuhr sie in einem obszönen Flüstern: Wenn sie sich die Haare aus dem Gesicht streicht und dabei den Arm über den Kopf hebt, dass du ihre Achselhöhle sehen kannst, glatt und rosig, und einen Hauch von Duft wahrnehmen kannst, nach zartem jungen Menschenfleisch vermischt mit einer Ahnung von Schweiß, dann tut sie das, weil sie will, dass du sie nimmst! Jetzt! Hier! Sofort!
    Dass sie ein vollkommen ekelhafter verrückter alter Baum sei, schoss mir durch den Kopf, dass sie aufhören solle. Es könnte aber auch sein, wisperte und zischte die Eiche weiter, dass ihr eine Strähne in die Augenhöhle gefallen ist und die Haare ihren Augapfel gereizt haben, und dass sie deswegen die Haare aus dem Gesicht wischt. Es könnte sein, dass du willst, dass sie so ist, wie du es willst. Es könnte weiters sein, dass sie ein zerbrochenes Ding ist, das nun in ihrer Unbeholfenheit und Unkenntnis aller Erwachsenendinge ihre Zerbrochenheit zur Verfügung stellt wie Gratiswerkzeug an einer Tankstelle, das jeder benutzen kann, wenn er es braucht. Es könnte sein, dass dies, was du als Locken eines jungen Mädchens siehst, nicht mehr ist als eine aggressive Wehrlosigkeit, mit der sie sich zur Verfügung stellt. Dass dies eine sehr verquere Art von Rache ist, nicht nur an denen, die ihr etwas angetan haben, sondern letztendlich an allem. An der ganzen Welt. Am Leben.
    Du weißt das, wenn du ehrlich bist, und trotzdem regt sich endlich wieder was in deiner Hose, nach so langer Zeit, und das willst du dir nicht kaputt machen lassen, und darum ist sie für dich nichts Zerbrochenes, das aus Rache an dieser zerbrechenden Welt sich weiter zerbrechen lässt, weiter und weiter, bis sich alle schämen, genauso unsäglich schämen wie sie selbst es tut, sondern sie ist für dich die Anishinaabe-Jungfrau, die das Streitpferd führt. Aber schau sie an. Schau sie an! Hast du deinen Kohl vergessen? Die Jungfrau, die den Kriegern voranschreitet in die Schlacht, auf dass deren Mut durch ihr bloßes langsames, würdevolles Anwesendsein ins Unermessliche gesteigert wird, die ist bei den Lakota und bei den Anishinaabe in weißes Rehleder gekleidet und hat ihre Haare verhüllt mit rotem Tuch. Und sie? Siehst du etwas Weißes? Siehst du etwas Rotes?
    Erzähl mir was von deinen Indianern, sagte sie.
    Indianer sagt man nicht, sagte ich. Das ist, als würde ich zu dir Tschuschenmädel sagen.
    Ich bin nicht diese Bosnierin.
    Albanerin.
    Bosnierin oder Albanerin, sagte sie, ist eh alles eins. Ich bin das nicht.
    Man sagt nicht Indianer, sagte ich. Der korrekte Ausdruck ist Die Ersten Völker. Oder Erste Menschen. Die Menschen

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