Das leere Land
sogenannte Exerzitien statt, eine ganze Arbeitswoche lang war den Schülern jegliches Sprechen untersagt. Außer in den Unterrichtsstunden natürlich, wenn man gefragt wurde. Während der nachmittäglichen Freistunden herrschte Ausgangssperre, jeder hatte an seinem Platz im Studiersaal zu bleiben und sich mit der Stärkung des Glaubens zu beschäftigen.
Zu diesem Behufe verteilten die Präfekten an die Knaben Heftchen, nicht unähnlich in der Aufmachung den Schundheften mit Akim oder Tibor oder dem Wandelnden Geist, deren Lektüre strengstens verboten war. Nur handelten die dünnen Broschüren mit den vielen Bildern in grellbunten, unecht wirkenden Farben nicht von Helden des Dschungels, sondern von den diversen rühmenswerten Heiligen der Katholischen Kirche. Märtyrer bevorzugt, und da wieder Märtyrerinnen bevorzugt. Auf dass uns deren Duldsamkeit und Opfermut und Unbeirrbarkeit ein Beispiel sein möge.
Was für eine Flut von abwegigen Körperdarstellungen, Verstümmelungen, Misshandlungen da über uns Knaben hereinbrach. Wie sehr sich bei den Dreizehnjährigen und Älteren die kleinen Schwänze regen wollten ob der vielen misshandelten Ärsche und mit Eisenzangen zerquetschten Brüste und sich in höchster Leidenslust windenden halb nackten Leiber beiderlei Geschlechts, erigieren wollten die Pimmelchen und konnten doch nicht wegen der im Falle von unzüchtigen Gedanken, Worten und Werken angedrohten Höllenqualen, und wahrscheinlich weil doch zumindest die kleinen Kinderhirne wahrnahmen, was die quälenslüsternen Ordensmänner nicht wahrhaben wollten. Dass die inbrünstige Betrachtung solcher Bilder und die Lektüre solcher Geschichten abwegig ist und nur dann gottgefällig, wenn der betreffende Gott ein altersgeiler, nur noch schwer zu erregender Lustmolch ist.
Schweigend wie gehorsame kleine Trappisten verschlangen wir die Heiligenschundhefte. Der so gut wie nackte blond gelockte Sebastian mit den Pfeilen in seinen Armen und Oberschenkeln, mindestens so abstoßend wie Billingers Aufgeilen an diesem Opfer der Römer in seinem Pferdefickerdrama Die Rosse . Bartholomaeus, der Sohn des Ackermanns, bei lebendigem Leibe gehäutet in Armenien, anschließend das rohe Fleisch, immer noch lebend, kopfüber ans Kreuz geschlagen. Der Heilige Laurentius, jugendlicher Weggefährte von Papst Sixtus dem Zweiten, den Kaiser Valerian enthaupten ließ, Laurentius selbst wurde kurz danach auf Befehl des Kaisers zwischen glühende Metallplatten gelegt und, als kein Schmerzenslaut sich ihm entrang, auf einem gewaltigen Rost zu Tode gebraten.
Alles bebildert, jedes Bildchen eine Momentaufnahme der größten Pein, der unsäglichsten Folterung durch die Heiden. Gar nicht mehr wegschauen wollten wir vom der Heiligen Agatha gewidmeten frommen Bändchen. Der Statthalter Siziliens begehrte die junge Christin, doch sie folgte weder seinem Werben noch opferte sie den heidnischen Götzen, wie vom Kaiser befohlen. Man band sie an eine Säule, riss ihr mit glühenden Zangen die Brüste aus, doch der Herr ließ auf wundersame Weise über Nacht die Verletzungen heilen. In seinem Zorn ließ der Statthalter tags darauf die standhafte Jungfrau entkleiden und auf glühenden Kohlen wälzen, welche mit Glassplittern vermischt waren. Bis kein Wunder mehr half und Agatha, getröstet von Engeln, verstarb.
Den tiefsten Eindruck auf uns Pubertierende hinterließ Afra, die Hure von Nürnberg. Als Heidin von der eigenen Mutter der Venus geweiht, verdiente sie ihren Lebensunterhalt als gewerbsmäßige Dirne. Eine katholische Heldin als Prostituierte! Bis sie einen verfolgten christlichen Bischof in ihrem Haus versteckte und von diesem bekehrt wurde. Und selbst das Martyrium auf sich nahm, an einen Baum gebunden verbrannte man sie und verscharrte ihre Reste auf einer Insel im Lech.
Diese Heftchen mit den Folterbildern, gegen die die grob pixeligen Fotos aus Abu Ghraib nur ein Witz sind, sollten wahrscheinlich unsere jungen Herzen erschauern machen und die inbrünstige Liebe zu Gott und den Heiligen Männern und Frauen befördern. Tatsächlich haben sie in uns Internatszöglingen die Pforten zu den finstersten Winkeln der Knabenseelen einen Spalt weit geöffnet, jene Winkel, wo nackte Leiber zusammengedacht werden mit Folter, Qual, Verletzung. Ein Wunder, dass nicht lauter kleine Fritz Haarmänner aus uns geworden sind. Ich jedenfalls konnte mir ein Leben lang keine Splatterfilme ansehen, und nicht einmal so Banales wie Scary Movie . Weil bei jedem
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