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Das leere Land

Das leere Land

Titel: Das leere Land Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Walter Kohl
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Donauauen, Sisi der Wildfang, auf ihrer Schiffsreise die Donau hinab zum kaiserlichen Brautgemach zu Wien.
    Die Nibelungenstraße interessierte mich als solche damals nicht, denn sie bog in Passau ab und führte nach Norden, in Orte mit langweiligen Namen, Weiden, Cham, Hof. Jahre später saß ich auf der Hertie-Mauer in Weiden und versuchte vergeblich, von den ortsansässigen Gammlern Haschisch zu kaufen, und ich sah mich bestätigt. Der Ort war so langweilig, wie er geklungen hatte.
    Als Kind setzte ich den Finger im Autoatlas auf den Namen des Dorfes und fuhr die Europastraße fünf auf und ab, bis ans Meer im Westen, bis ans Meer im Osten. Damals führte die E5 noch von Istanbul nach Amsterdam. Stundenlang zog ich den Straßenverlauf nach, immer wieder, ein gewaltiges Hin und Her über den ganzen Kontinent, und flüsterte dabei die Städtenamen, die ich passierte. Heute weiß ich, dass es ein ungeheurer Welt-Mangel gewesen war, der mich den Finger über das kartografierte Shell-Europa hatte schieben lassen, Amsterdam, Istanbul, immer wieder. Und noch etwas weiß ich heute. Ich bin leibhaftig in Amsterdam gewesen, und in Istanbul, doch der Welt-Mangel hat deswegen nicht abgenommen.
    Der Wunsch nach dem Wegsein war so stark, dass ich mich einmal wöchentlich in Träumereien verlor, deren Auslöser die Rückseiten der Totoscheine waren. Der Vater füllte ein paar Kolonnen aus, zuvor las er die Kurzbeschreibungen der zur Bewertung anstehenden Spiele laut vor, dann ließ er mich eine Kolonne tippen. Sein Vorlesen entfachte eine starke Sehnsucht von jener Art, die nur deswegen entsteht, weil sie nicht zu erfüllen ist. Diese Städtenamen! Liverpool. Madrid. Manchester. Lissabon. Barcelona. Moskau. Es war wie eine Bestätigung, dass es eine große, spannende, glänzende Welt da draußen geben musste. Dort hatte alles klingende Namen, war aufregend, groß und weit und bedeutsam.
    War anders als in dem kleinen, engen, schäbigen Dorf. Dort draußen muffelte es nicht aus allen Ecken und Enden, hatte nicht der Großbauer das Sagen, verhörte nicht der Pfarrer am Montag in der Religionsstunde jedes einzelne Volksschulkind, ob es am Sonntag in der Messe gewesen war. Dort schlichen nicht die Hilfsarbeiter geduckt wie getretene Hunde zum Schichtbus, dort durften die Gendarmen nicht Reichhold, den unehelichen Sohn der Säuferin, ungestraft ohrfeigen, wenn sie ihn nachts allein erwischten. Hockten die kleinen Bauern nicht verhärmt und trotzig auf den Traktoren, zornig und zutiefst gekränkt und geängstigt von den mit Kreisky anbrechenden neuen Zeiten.
    Zurückgekehrt in die elterliche Wohnung, die Abende auf der Couch meiner Mutter verbringend, sah ich wieder viel zu viel fern. Und fühlte mich bei den Nachrichtensendungen zurück gezappt in dieses Siebziger-Jahre-Dorf, nur dass diesmal ganz Österreich zum Dorf geworden war. Wenn die schmallippigen, kleinkrämerischen Politsprech absondernden Männer, immer waren es nur Männer, die so wortreich das Kleine, das Enge, das Xenophobe beschworen, auftauchten, dann dachte ich, Scheiße, es ist wieder so, wie es im Dorf war. Alle waren zufrieden mit dem, was war, und hatten eine Höllenangst vor allem, was anders war.
    Alles, was nicht Dorf war, was nicht durch die bloße Tatsache des seit Generationen hier Beheimatetseins seine Daseinsberechtigung belegen konnte, war nicht wirklich existent. Zählte nicht. Hatte hier nichts zu suchen, weil es hier nichts verloren hatte. Da genügte ein weißer Kopfverband nach einer Schädeloperation im neurologischen Krankenhaus zu Linz, um aus einem eigentlich Eingesessenen einen Fremden zu machen, dem die Dorfbuben nachliefen, um ihn als Idioten aus Niedernhart zu verhöhnen. Alles Fremde verunsicherte. Machte Angst. Bedrohte. Gefährdete das Gegebene, das Alteingesessene, das Biertischdunstige, das Sicherheitssüchtige.
    Die verstörten und in ihrer nackten Existenz bedrohten Menschen in Favianis und Iuvao und Lauriacum und Comagenis, die hatten einleuchtende Gründe, alles in Kauf zu nehmen für einen Hauch von Sicherheit, schrieb ich in mein Notizheft. Aber warum lassen die heutigen Mauterner und Salzburger und Lorcher und Tullner zu, dass in diesem einzigen großen, muffeligen Dorf Österreich der Bürgermeister und der Pfarrer und die diversen Vereinsobmänner und natürlich die Klatschtanten beim Bäcker und beim Nah-und-Frisch-Markt und die Frau Lehrer und, nicht zu vergessen, der Dorfgendarm alles an sich reißen und alles so flach und

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