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Das leere Land

Das leere Land

Titel: Das leere Land Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Walter Kohl
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Jahrzehnte, wenn nicht Jahrhunderte entfacht hat.
    Ich hielt mich an Lotter. Seine Version war mir die sympathischste. Er zog in seinen hochlöblichen Forschungen bislang unbeachtete Quellen zu Rate und fand Erstaunliches. Etwa die Vita des Mönchs Antonius von Lerins, die der adelige Bischof von Pavia, Magnus Felix Ennodius, ein Zeitgenosse des Eugipp, verfasst hat. Darin kommt auch ein Severinus vor, ein illustrissimus vir, ein sehr angesehner Mann, ein Titel, der dazumals den Inhabern höchster Reichs- und Hofämter vorbehalten war.
    In den Wirren um gestürzte Cäsaren und den Abwehrkampf gegen Vandalen und Goten im Gallien der Zeit um 460 nach Christi Geburt taucht dieser Flavius Severinus auf, ein hoher Soldat, ein Heerführer, ein militärischer Beschützer von Provinzen, unter anderem Noricums. Ein römischer Herrenmensch, der die ostalpinen Provinzen zurückerobert hatte. Ein charismatischer Führer, der die Truppen der donaugermanischen Barbaren dazu gebracht hatte, sich seinem Heer anzuschließen und so die Herrschaft von Kaiser Flavius Iulius Valerius Maiorianus noch einmal zu verfestigen. Und der schließlich zum Konsul ernannt wurde.
    Diesen Severinus will ich als den norischen ansehen, auch wenn die sogenannte Fachwelt Lotters Theorie weitgehend abgelehnt hat. Es ist vorstellbar, dass dieser Machtmensch und Konsul Severinus nach dem Sturz des Maiorianus im Jahre 461 flüchten musste, nach Ägypten ging, oder auf den Sinai, dass er dort, müde und überdrüssig des Imperiumswirrwarrs, sich zurückzog in die absolute Einsamkeit, wie er sie abgeschaut hatte von den Anachoreten der Wüstensteppen und vorderorientalischen Gebirge.
    Dies würde erklären, dass er, nach Jahren in der inneren Emigration, zurückkehrte mit Auftreten, Gehabe und Kleidung eines asketischen Mönchleins, dass aber alle und alles in den Donauprovinzen das Haupt neigte vor ihm, Freund wie Feind, da sie ihn ja kannten als den einstigen Konsul und Heerführer. Es würde jene lächerliche Geschichte Eugipps plausibel machen, die in die Literatur eingegangen ist als Primenius-Episode.
    Als Odoaker den Orestes ermordet hatte, den Vater des letzten weströmischen Kaisers und Freund des Severinus, war der Presbyter Primenius, ein väterlicher Freund des Orest, vor dem Skiren aus Ravenna zum Heiligen Mann nach Mautern geflohen. Er hatte, wie so viele, den Seher Noricums nach dessen Herkunft befragt. Worauf Severinus die Antwort gegeben hatte, es nütze einem Diener Gottes nichts, über seine Heimat und seine Familie zu reden, ein Diener Gottes solle vielmehr durch Schweigen dem Laster übler Prahlsucht entgehen.
    Dabei schildert Eugipp den Severinus als zerlumpten Asketen in abgerissener, stinkender Kleidung. Eugipp lügt, immer und überall, auch in diesem Falle. Ich bin überzeugt davon, dass Severinus geduftet hat nach Lavendel. Das Duftkraut hat seinen Namen nach dem Brauch der Römer, die ihre Kleider mit Lavendel gewaschen haben. Lavendel, lavare, waschen. Nicht die Römer – die vornehmen Römer behandelten ihre Wäsche auf diese Art. Und sie haben sie nicht behandelt, sondern sie haben sie behandeln lassen vom Personal.
    Nur einen halben Tag verbrachte ich auf den Spuren der Römer in Mautern. Ich stand vor der Mauer, die längste erhaltene Befestigungsmauer, und fotografierte mich selbst mit dem Handy. Kurz hatte ich gezögert, den Rasen zu betreten, er sah aus, als sei dies verboten. Aus der Römerhalle oben traten dauernd Menschen ins Freie, um eine Zigarette zu rauchen, sie standen auf dem hölzernen Übergang und blickten missmutig auf mich hinab, als ich durch das gepflegte Gras stapfte. Den Burgus, die Cellula des Severinus suchte ich nicht, wie gesagt. Es lohnte nicht.
    Möglicherweise hat sie Eugipp nur erfunden. An einen abgeschiedenen Ort namens Ad Vineas habe sich der Heilige Mann zurückgezogen, An den Weinbergen, in eine Cellula, eine winzige Klause, die die Anrainer Burgus nannten, den Wachturm. Ich weiß nicht, ob es damals Weinberge gab südlich der Donau. Denn Eugipp betont immer wieder, wie rau das Klima in Noricum gewesen sei. Er tut es, um die asketische Tat des Barfußlaufens seines Heiligen zu rühmen. Dauernd ist von der zugefrorenen Donau die Rede, was die Nachschublieferungen blockierte und was es den Barbaren aus dem rugischen Reich im Norden ermöglichte, leicht und ungehindert den Strom zu überqueren bei ihren Raubzügen und Geiselnahmen. Ich selbst habe in einem halben Jahrhundert an der Donau nur

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