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Das leere Land

Das leere Land

Titel: Das leere Land Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Walter Kohl
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Augenbraue ist hochgezogen, seine linke dagegen hängt nach unten, verdeckt beinahe seinen Blick. Auch meine Augenbrauen sind seit zehn Jahren asymmetrisch, eine hängt so weit nach unten, dass ich alle paar Wochen die Augenbrauenhaare zurückstutzen muss, damit sie nicht den Augapfel reizen. Nur dass es bei mir die rechte Braue ist, die hängt, und nicht die linke.

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    Ich stand da vor dem Diabetikerregal im Supermarkt und verstand gar nichts. Keine Ahnung, was all das bedeutete. Omega-Fettsäuren, Alpha-Linolensäure, Triglyceride, Fructose, glykämischer Index, Broteinheiten, freie Radikale aus sekundären Pflanzenstoffen. Ich begann zu ahnen, dass da etwas auf mich zukam, das mich erdrücken würde. Das mich ständig kontrollieren wird, nicht herrisch und großspurig und lautstark, sondern klein und leise, aber mit unerbittlicher Unausweichlichkeit.
    Google war keine Hilfe. Eine Broteinheit ist jene Menge eines Nahrungsmittels, die zwölf Gramm, in der Schweiz zehn Gramm, an verdaulichen und damit blutzuckerwirksamen Kohlehydraten in unterschiedlicher Zucker- und Stärkeform enthält. Eine deutsche und österreichische Broteinheit entspricht einem Brennwert von achtundvierzig Kilokalorien. Der Diabetiker sollte pro Tag nicht mehr als achtzehn bis zweiundzwanzig Broteinheiten zu sich nehmen, am besten gleichmäßig verteilt auf fünf Mahlzeiten. Zwanzig Broteinheiten, das sind zwei Pizzen oder zwanzig kleine Biere. Oder zwanzig Semmeln.
    Der Duplo-Riegel von Ferrero, mein Liebling, enthält sechs Gramm Fett, zählt achtundneunzig Kilokalorien und wird bewertet mit 0,8 Broteinheiten. Die Süßigkeit, nach der ich süchtig bin, ist dagegen der reinste Killer. Marsriegel. Vierhundertfünfzig Kilokalorien. Achtzehn Gramm Fett. Beinahe sechs Broteinheiten. Drei Mars und zwei Duplo, sonst nichts, das wird mein neues Limit. Meine Tagesration.
    Im Netz warnten die meisten vor speziellen Diabetikerprodukten. Sie enthielten zwar keinen Zucker, dafür seien sie fetthaltiger und kalorienreicher als normale Süßigkeiten. Die Diskussionen über die Gefährlichkeit von Zuckeraustauschstoffen las ich gleich nicht mehr, weil sie mich verwirrten und ängstigten. Die einzige positive Information: Trockener leichter Weißwein ist gut. Dafür Bier schlecht.
    Lies das alles bloß nicht, empfahl Bodinger. Um halb acht Uhr morgens saß ich in seinem Wartezimmer. Er hatte lediglich für ein paar belehrende Worte Zeit. Keine Infos aus dem Netz, weniger und abwechslungsreichere Nahrung, viel Bewegung. Und vorerst handelt es sich bloß um einen Verdacht. Nur keine Hysterie. Ist wahrscheinlich ohne Medikamente in den Griff zu kriegen. Und vor allem: Wir warten die Ergebnisse ab. Seine Ordinationshilfe stach mich völlig unvorbereitet in eine Fingerkuppe und quetschte einen Tropfen Blut aus der Wunde, den sie mit einem winzigen Messstreifen wegwischte. Dann ging sie. Ich blieb ein paar Minuten sitzen in der Behandlungskoje. Als ich sie das nächste Mal durch die Milchglastür vorbeigehen sah, klopfte ich an das Glas. Oh, sagte sie, nachdem sie mit sichtlichem Staunen die Tür geöffnet hatte, oh, Sie sind doch schon fertig.
    Gut.
    Frühstücken Sie wie sonst immer, und dann bis elf. Und weg war sie.
    Beim Elf-Uhr-Termin nahm sich Bodinger persönlich meiner an. Diesmal ging es nicht um die Fingerkuppe. Er rammte mir eine bloße Nadel in den Unterarm, über das offene Ende stülpte er nacheinander fünf oder sechs Phiolen, in denen er mein Blut auffing. Nehmet hin und trinket, denn dies ist mein Blut, flüsterte Bodinger mit konzentriertem Gesicht, der war gut, sagte ich, lachte aus Höflichkeit viel zu laut. Hic est enim sanguis meus! Damals noch streng tridentinisch, sagte er, wie es sich gehört. Weißt du noch, fing er dann an, und erzählte irgendwelche Ministrantenstreiche, die mit Verwechslungen der Messgewänder und Übergriffen auf Messwein zu tun hatten.
    Nicht, wollte ich sagen, hab genug. Es gibt nichts auszutauschen an Erinnerungen. Zwei Begegnungen haben mir genügt, um alles abzuhandeln. Dass die alten Ordensmänner Nazis gewesen waren. Dass Turnstundenfußball eine Zumutung für Knaben dargestellt hatte, die gerade Männer werden wollten. Dass die Gänge und Studiersäle im Klostergemäuer des unendlich langweiligen Bernhard von Clairvaux wie getränkt schienen von einer miefigen Duftmischung von zerkochtem Kraut, Kinderangstschweiß und schnell und heimlich herausgepresstem Onaniersperma.
    Bodinger strich mit festem Druck

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