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Das leere Land

Das leere Land

Titel: Das leere Land Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Walter Kohl
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Körper des zu Initiierenden ist durch die Narben sichtbar in eine herrschende Stammesordnung eingepasst.
    Jede macht es, die ich kenne, und auch manche von den Burschen. Eigentlich macht es jeder. Die Mädchen sowieso. Wenn du wo hingehst, egal in welches Lokal, im Sommer, und es ist heiß, da musst du nur schauen: Wer hat bei der Hitze was mit langen Ärmeln an? Das sind die, die es machen.
    Du allerärmste Mishi Bizhi, wollte ich sagen, wo nur ist dein Nigouime, dein dich schützender Gott. Aber heraus brachte ich nur Schwachsinn. Selbstbeschädigung als Abbild eines komplizierten Sozialgefüges in aboriginalen Stammesgesellschaften.
    Es tut nicht weh, sagte sie. Man spürt gar nichts. Ein kleiner Ritsch, und rot bist du. Nein, stimmt nicht. Tut schon weh. Es soll ja wehtun. Es tut gut, wenn es wehtut. Du kannst weinen, wenn es wehtut. Weißt ja, wenn es wehtut, weinen Mädchen. Plötzlich verzog Trixi ihren Mund zu dem eines quengeligen Kleinkinds und quäkte: Bin jetzt ein kleines kleines Mädilein und darf ganz viel weinen tun. Dann dehnte sie sich und schüttelte den Kopf. Nein danke. Ich bin eine, die nicht weint.
    Nigouime, das ist der eine unverwechselbare und einmalige Gott, den jeder einzelne Indianer und jede Indianerin ganz für sich allein hat, ein ganz persönlicher Gott und zugleich der mächtigste von allen. Wir verstehen das nicht, sagte ich, die Missionare haben das alles falsch aufgeschrieben und falsch interpretiert und wahrscheinlich mit Absicht verfälscht. Kitche Manitou, der Große Geist, ist nur so etwas wie ein abstraktes Konzept von etwas Endgültigem, vergleichbar dem Optimus Maximus der Römer, schreibt Kohl, die Idee einer obersten Instanz, aber ohne Form und Persönlichkeit. Jeder einzelne Mensch findet im Lauf seines Lebens seinen Nigouime, sagen die Ojibbeway, schreibt Kohl, das kann eine Pflanze sein oder ein Tier oder ein Gefühl oder ein Zustand oder nur ein Windhauch. Nigouime, das heißt Meine Hoffnung in Anishinaabemowin, der Sprache der Eigentlichen Menschen. Verstehst du, die sagen zu ihrem Gott nicht Vater oder Herr, sondern Meine Hoffnung.
    Im Irrenhaus haben sie gesagt, es ist so etwas wie ein Übergang, sagte sie. Übergang. Da innen, dort außen. Es soll das eine zum anderen hinaus und das andere zum einen hinein können, aber leider ist keine Durchfahrt gestattet, da musst du zuerst eine Ritze machen in die Mauer. Sie senkte ihre Stimme. Es machte mir Angst. So nahe wollte ich keinem Menschen kommen, und schon gar nicht einem Kind, das aussah wie eine Frau.
    Schlitz es auf, flüsterte sie mit einem heiseren Hass in ihrer Stimme, schlitz es auf, das Glitschhautding, dann kann das von draußen hinein und das von drinnen hinaus. Jetzt siehst du von außen hinein und von innen hinaus. Da kann dann das kleine Ding in mir drin nach außen schauen. Und was sieht es da? Bloß Scheiße, genau dieselbe Scheiße.
    Weißt du, sagte ich, im höchsten Norden Kanadas gibt es ein einsames Indianerkaff in der eisigen Tundra, das heißt Hoffnung. Good Hope. Da leben Leute mit einem wunderbar poetischen Namen. Hareskin Dene. Die Hasenfellmenschen. Aber dieses Dorf, das als Ganzes so heißt wie dieser größte und mächtigste Gott der Indianer in den alten Zeiten, Hoffnung, Gute Hoffnung sogar, und in dem ein Volk wohnt mit dem zauberhaftesten Namen, den man sich vorstellen kann, das ist nur aus einem einzigen Grund erwähnenswert: Es weist die höchste Selbstmordrate der Welt auf. Ist das nicht ein äußerst seltsames Antonym? Gute Hoffnung und freiwillig aus dem Leben scheiden?
    Du kennst dich in nichts richtig aus, oder?, sagte sie. Ich schwieg. Was jetzt wegen dem Geld sei, sagte sie. Ich gab ihr einen Hundert-Euro-Schein. Bis bald, sagte sie und ging.

40
    Bei Zeiselmauer auf einem Uferstein sitzend, Bein mit Bein deckend, und in Aschach an der Donau in einen Designer-Kaffeehausgastgartenstuhl gezwängt, was gar nicht so leicht war, stattlich und feist wie ich war, und im zeckenverseuchten Augebüsch von Künzing, und auf der Betonmauer vor dem Kunstglaskasten in Linz, und an Deck der fliegenden Brücke zu Ottensheim, immer die Ysura und die Hister vor Augen und die Do-avv, wie die Kelten sie nannten, Zwei Wasser, an all diesen Uferböschungen kam mir an verschiedenen Tagen immer derselbe Gedanke. Wo ist der Anfang?
    Nicht diesen Anfang meine ich: Am Severustag im neunten Jahr nach dem Großen Krieg, über den das Dorf nicht spricht, presste mich meine Mutter eine halbe Stunde nach

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