Das Legat der Toten
Sprechhilfe zurecht, räusperte sich und wartete, bis sich jeder wieder gesetzt hatte.
Danach begann er mit seiner Predigt. Er hatte kein Buch mitgenommen, er las auch nicht von einem Zettel ab, sondern sprach frei.
Die Worte interessierten Booker nicht. Ein feistes Grinsen glitt über sein Gesicht, als er sich von der Säule löste und hinter der rechten Reihe der Bänke entlangging, weil er dort genau auf die Kanzel zulaufen konnte.
Furcht hatte er nicht. Er ging mit forschen Schritten, aber er duckte sich und hielt sich möglichst an schattigen Stellen, um nicht sofort gesehen zu werden.
Booker hatte Glück. Die Bischöfe lauschten konzentriert den Ausführungen des Predigers auf der Kanzel. Für ihre Umgebung hatten sie keinen Blick. Genau das hatte Booker gewollt. Der große Schmerz war vorbei, und er fühlte sich in der feindlichen Umgebung jetzt wohl. Er war überzeugt, daß es nur einen Sieger geben konnte, und das war er.
Unbemerkt erreichte er den Beginn der Kanzeltreppe. An der unteren Stufe hockte er sich hin und wartete noch einen Moment ab. Es konnte sein, daß der Bischof seine Predigt beendete und die Stufen herabkam.
Nein, das war nicht der Fall.
Er blieb oben und redete weiter. Er sprach über den Anfang und das Ende. Er interpretierte die Worte des Erlösers, was bei Booker wieder Haßflammen hochschießen ließ.
Er hielt es nicht mehr aus.
Er mußte hoch.
Leicht geduckt nahm er die Stufen. Er war jetzt locker. Er ging nicht mehr mit schweren Schritten. Die Säule schützte ihn vor Blicken, und nur Sekunden später sah er den Rücken des Bischofs vor sich.
Geduckt und sprungbereit wie ein Tier verharrte Booker hinter dem Mann. Er wollte den richtigen Zeitpunkt abwarten und lauschte den Worten.
»Auch wenn es Menschen gibt, die noch immer zweifeln. Es gibt keine Alternative zu unserem Herrn und Gott. Er war es, der seinen Sohn schickte, er war es, der dadurch die Menschheit erlöste und...«
»Neiiinnnnn!« brüllte Booker dazwischen und rannte vor!
***
Genau auf diesen Moment hatte er gewartet, um die Zuhörer zu schocken. Es sollte ein Auftritt werden, den sie nie vergaßen. Er war jetzt dabei, das Zeichen zu setzen, und dieses geschriene »Nein!« war wie der Klang einer höllischen Fanfare in die Worte des Bischofs hineingefahren.
Der Geistliche verstummte mitten im Satz. Auf der Kanzel stehend, drehte er sich um. Er wollte denjenigen sehen, der es gewagt hatte, ihn zu unterbrechen, aber er sah nicht mehr als diese unheimliche Gestalt mit offenem Mantel, der durch den Sprung zur Seite geschwungen war.
Dann faßte Booker schon zu.
Die anderen Bischöfe bekamen nicht genau mit, was dort oben auf der Kanzel passierte. Sie sahen die Bewegungen der Arme, die um sich schlugen. Dann flatterte der Bischof plötzlich in die Höhe. Für sie mußte die Aktion so aussehen, denn Booker hatte ihn hochgestemmt und zugleich auf den Rand der Kanzel gedrückt.
Für einen Moment sah Booker die Angst in den Augen des Mannes leuchten. Daran hatte er seinen Spaß, denn er hielt hier einen Todfeind mit den eigenen Händen fest.
Für einen Moment fand der Bischof noch auf dem Rand der Kanzel seinen Halt.
Dann erhielt er einen Stoß.
Er kippte nach hinten. Er schlug mit den Armen und Beinen um sich. Er schrie dabei, und der Schrei hörte schlagartig auf, als er auf den Steinboden prallte.
Nicht einmal ein Schrei jagte gegen die Kirchendecke. Es war noch ein dumpfer trockener Laut aufgeklungen, als der Hinterkopf gegen den Boden geprallt war.
Die Bischöfe waren entsetzt und saßen wie erstarrt auf ihren Bänken. Der Schock hatte sie gelähmt. Keiner lief hin, um dem auf dem Rücken liegenden Mann zu helfen, unter dessen Kopf Blut hervorsickerte.
Sie sahen nur ihn.
Er hatte die Regie übernommen, und er fühlte sich auf der Kanzel pudelwohl. Sein Lachen hallte durch die Kirche. Es transportierte Angst und Triumph, denn Booker sah sich als Sieger.
»Ich bin es!« schrie er. »Ich bin das Ende und auch die Erneuerung. Ich habe nicht umsonst auf diesen Zeitpunkt gewartet. Das neue Millennium liegt vor uns. Hundert Jahre mußte ich warten, um wieder so zu sein wie ich jetzt bin. Es ist meine Zeit, aber eure Zeit ist abgelaufen. Ihr werdet den ersten Tag des neuen Jahrtausends nicht mehr erleben, denn ich bin gekommen, um euch zu verfluchen und zugleich den Menschen den neuen Weg zu zeigen. Da – seht!« schrie er noch lauter und sprang mit einem Satz auf den Rand der Kanzel. Er war so sicher und
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