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Das letzte Buch

Das letzte Buch

Titel: Das letzte Buch Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Zoran Zivkovic
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und dann versuchte ich es nicht mehr. Auch an der einen wäre ich vorübergegangen, hätte ich nicht von der anderen Seite ein
     Klopfen gehört.
    Ich blieb stehen und schaute unentschlossen auf das Viereck, dessen Ränder sich kaum abzeichneten. Dann wandte ich den Kopf
     in die eine und in die andere Richtung des Korridors.
    »Ja, bitte?«, sagte ich schließlich. Da ich fast nur geflüstert hatte, wiederholte ich lauter: »Bitte sehr!«
    Die Tür kam langsam auf mich zu. Ich musste ein wenig zurücktreten, um nicht im Wege zu stehen. Als die Tür einen |83| Bogen von neunzig Grad beschrieben hatte, erblickte ich endlich die Person, die sie geöffnet hatte.
    Die grauhaarige Dame im grauen Mantel und einer Kappe auf dem Kopf lächelte verbindlich. Irgendwoher wusste ich, dass das
     schmale Buch, das sie hielt, eine Sammlung Liebesgedichte war.
    Mit einer weiten Geste wies sie auf den Raum hinter der Tür.
    Ich zögerte ein wenig, ehe ich hineinging. In dem eintönigen Korridor hatte ich mich nicht wohlgefühlt, aber aus irgendwelchen
     Gründen war es mir auch nicht angenehm, einzutreten. Doch wie sollte ich ihre liebenswürdige Einladung ablehnen?
    Langsam setzte ich den Fuß über die Schwelle und die Dame schloss rasch die Tür hinter mir. Ich befand mich in einem verhältnismäßig
     kleinen Zimmer, dessen Einrichtung lediglich aus einem gewöhnlichen Holztisch und zwei Hockern bestand. An der linken Wand
     stand ein Waschbecken und darüber hing ein ovaler Spiegel. Die Dame begab sich geradewegs dorthin, legte das Buch auf die
     schmale Ablage unterm Spiegel, öffnete den Wasserhahn und begann ihr Gesicht zu bespritzen.
    Die zwei Männer standen sofort auf, als ich kam. Zwischen ihnen stand in der Mitte des Tischs ein Schachbrett ohne Figuren.
     Beleuchtet wurde es von einer nackten Glühbirne, die an einem Kabel von der hohen Zimmerdecke herabhing. Der Herr mit der
     nicht angesteckten Pfeife trug ein kariertes Sakko, und der mit den schrägen Augen hatte schmale lange Hosen an und einen
     Blazer, der bis obenhin zugeknöpft war. Ersterer neigte kurz den Kopf, während sich der andere mehrmals vor mir verbeugte.
    Solange die Frau weiterhin ihr Gesicht wusch und dabei eine immer größere Pfütze auf dem kahlen Fußboden hinterließ, kamen
     die beiden Herren auf mich zu und nahmen |84| mich bei den Armen, jeder von einer Seite. Ich ließ mich nicht sogleich fortführen, doch durch ihr Lächeln und die erneuten
     Verbeugungen taute ich auf.
    Wir gingen durch das Zimmer, am Tisch vorbei, zu der Wand dahinter. Erst als wir ihr ganz nahe waren, sah ich, dass auch hier
     ein runder Knauf war. Wir standen eine Weile reglos vor der Tür, die ich nicht hatte sehen können, bis von der anderen Seite,
     so wie eben, ein Klopfen drang.
    Diesmal ging die Tür nach innen auf und eröffnete mir einen immer größeren Blick auf Regale voller Bücher. Ich spürte zwei
     Hände im Rücken, die mich sanft schoben. Weniger ungern als zuvor trat ich in den neuen Raum ein.
    Selbst wenn jemand die Tür geöffnet hatte, blieb er dahinter verborgen. Alle Wände waren vom Boden bis zur Decke mit Büchern
     zugestellt. Hier war die Einrichtung noch dürftiger. Linkerseits an der Wandmitte stand ein einsamer Sessel, bezogen mit dem
     gleichen Samt wie im Korridor. Darin saß ein gebeugter, grauhaariger Mann.
    Kaum war ich eingetreten, da stand er auf, drehte sich zu einem Regal um und ließ den Finger über eine Buchreihe in Kopfhöhe
     gleiten. Die Suche war bald beendet. Er zog ein Buch heraus und ging zurück zum Sessel.
    Als seine Hand zum Buchdeckel griff, um ihn anzuheben, öffnete ich den Mund und wollte schreien, er solle das nicht tun, doch
     aus meiner Kehle kam kein Laut. Ich wollte hinlaufen und ihm das
letzte Buch
aus der Hand nehmen, aber mein Körper gehorchte mir nicht. Ich stand wie versteinert an der offenen Tür und schaute hilflos
     zu.
    Der Alte öffnete das Buch und blätterte kurz darin. Als er auf einer Seite haltmachte und sich ins Lesen vertiefte, begann
     er zu zerfließen. Als sei er aus vielen kleinen Bällen zusammengesetzt, begann sein Körper zu zerfallen und zerbröseln. Beginnend
     bei den Füßen, fielen die Kügelchen von ihm ab und verdampften, noch ehe sie den Boden erreichten.
    |85| Vor meinen Augen wurde der Mann rasch immer kleiner. Nach den Beinen kam der Rumpf an die Reihe. Als sich auch seine Schultern
     auflösten, stoppte der Zerfall für einen Moment. Der Anblick des Kopfs und der beiden

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