Das letzte Buch
riesigen Schubladen über eine ganze Wand die Schutzbefohlenen des Instituts aufbewahrt
wurden. In der Mitte stand ein Tisch für die Autopsie, daneben eine Art Servierwagen voller Instrumente, von denen einem übel
werden konnte. Die Ärztin Sonja Vidić saß in einer Ecke am Computer. Selbst am Sonntagvormittag war sie auffällig geschminkt.
Neben dem Monitor lag eine große angebrochene Tafel Schokolade.
Als wir zu ihr gingen, stand sie auf.
»Guten Tag«, sagte ich.
Sie nickte daraufhin mit einem verlegenem Lächeln, wobei sie sich bemühte, rasch mit der Zunge die Schokoladenreste von den
Zähnen zu reiben.
»Fräulein Doktor Vidić hat einen neuen Fall entdeckt«, sagte Doktor Dimitrijević.
»Sie haben auch Ihr Verdienst daran«, meinte sie schließlich. Ihre Zunge hatte ihre Arbeit nicht vollkommen verrichtet.
|95| »Ich?«
»Sie haben den Zweifel in mir geweckt. Auch hier hätte ich auf den ersten Blick geschworen, es würde sich um Herzversagen
handeln. Aber die Autopsie hat nichts ergeben. Es gab keinen Grund, dass die Frau sterben musste.«
»Wo ist sie gestorben?«
»Zu Hause. Sie hat allein gelebt. Ihr Mann ist vor langer Zeit bei einem Verkehrsunfall umgekommen. Sie hat nicht wieder geheiratet.
Ihren Tod hat die Haushaltshilfe angezeigt, die sonntags putzen kommt. Sie hat zuerst geklingelt, und als sich keiner meldete,
hat sie mit ihrem Schlüssel geöffnet. Sie hat die Frau im Salon auf dem Fußboden liegen sehen. Sie war schon etwa sechsunddreißig
Stunden tot.«
»Dann ist also der Tod am Freitagabend eingetreten?«
»Ja. Zwischen acht Uhr und Mitternacht. Es ist schwierig, die Zeit genauer zu bestimmen.«
Ich dachte kurz nach.
»Würden Sie sie mir zeigen?«
»Natürlich.«
Sie zog eine Schublade heraus. Uns schlug eine Welle gekühlter Luft entgegen. Sie hob das Tuch von dem Kopf. Die Frau war
gut fünfzig Jahre alt, mit langem schwarzem Haar. Normalerweise wird ein Gesicht durch den Tod entstellt, doch in diesem Fall
nicht so sehr, als dass ich nicht bemerkt hätte, dass die Frau etwas auf ihr Äußeres gehalten hatte.
Ich nickte, und die Ärztin schloss die Schublade.
»Ist sie Ihnen nicht bekannt?«, fragte sie.
»Nein.«
»Es wird anscheinend immer komplizierter«, sagte Doktor Dimitrijević. »Wir sind nicht mehr bloß auf die Buchhandlung beschränkt.«
»Ich hoffe nur, es handelt sich nicht um eine Epidemie«, fügte die Ärztin hinzu.
»Was für eine?«, fragte ich.
|96| Sie zuckte die Schultern. »Sterben ohne Grund.«
Mit einer Kopfbewegung wies ich auf die geschlossene Schublade. »Was haben Sie über sie in Erfahrung gebracht?«
Die Ärztin ging zu dem Computertischchen, nahm ein Notizbuch vor und blätterte darin.
»Sie war Kustodin im Museum für Moderne Kunst …«
»Dragana Stojanović?«
Sie hob den Blick vom Notizbuch.
»Sie kennen sie?«
»Nein. Ich habe gestern zum ersten Mal von ihr gehört.«
Beide schauten mich verdutzt an.
»Wir haben keine Epidemie. Es bleibt auch weiterhin auf die Buchhandlung beschränkt. Frau Stojanović war am Freitag gegen
Abend dort.«
»In der Zeit, als der junge Mann starb?«, fragte Doktor Dimitrijević.
Die Ärztin blätterte erneut in ihrem Notizbuch.
»Lazar Žigić, Student der Veterinärmedizin.«
»Ja. Sagen Sie, haben Sie in der Nähe der Leiche der Frau Stojanović ein Buch entdeckt?«
Fräulein Doktor Vidić dachte nach.
»Ich glaube nicht, aber ich bin nicht sicher.«
»Hat die Haushaltshilfe die Wohnung aufgeräumt, bevor Sie eintrafen?«
»Ich denke nicht. Sie war zu verwirrt.«
»Ist sie in der Wohnung geblieben oder mit Ihnen hinausgegangen?«
»Wir sind alle gemeinsam gegangen. Ich habe mit ihrem Schlüssel zugeschlossen.«
»Könnten Sie mir den Schlüssel geben? Ich würde gern hingehen und mich dort ein bisschen umschauen.«
»Natürlich.«
Sie ging wieder zu dem kleinen Tisch, nahm ein weißes |97| Kuvert mittleren Formats und schüttelte daraus einen Schlüssel auf ihre Hand. Dann schrieb sie etwas in das Notizbuch, riss
die Seite heraus und übergab sie mir zusammen mit dem Schlüssel.
»Hier ist auch die Adresse.«
Ich lächelte sie an. »Danke.«
»Warum interessiert es Sie, ob ein Buch in der Nähe war?«, fragte Doktor Dimitrijević.
»Weil wir in Ermangelung einer einfachen Lösung womöglich zu den komplizierteren Möglichkeiten Zuflucht nehmen müssen.«
»Woran denken Sie?«
»Sie haben mir gegenüber gewisse künstliche Substanzen erwähnt, die
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