Das letzte Buch
Abend sind wir nicht allein.«
Die Kutten um mich herum raschelten.
»Ein Ungeladener hat sich zu uns gesellt, der in seiner Einfalt glaubt, nicht entdeckt zu werden. Jetzt wird der Eindringling |146| seine Dummheit bezahlen! Doch er hat keinen Grund, deswegen traurig zu sein. Wir erweisen ihm eigentlich damit eine große
Ehre, dass er der Erste ist, über den das
letzte Buch
nicht mehr im Geheimen das Urteil fällen wird.«
Ich hatte keine Zeit, irgendetwas zu unternehmen. Kniend, den Kopf gesenkt, hatte ich überhaupt nicht gehört, wie sich mir
die Gardisten in Rot genähert hatten. Starke Hände ergriffen mich und stellten mich auf. Der Widerstand, den ich zu leisten
versuchte, wurde rasch gebrochen. Während sie mich trugen, sah ich, wie sich die braunen Kutten ringsum aufrichteten.
Als wir in die Mitte des Raums gelangten, war der Großmeister bereits von dem viereckigen Podest herabgestiegen, auf dem er
gestanden und das sich offenbar aus dem Fußboden erhoben hatte, denn als ich angekommen war, hatte ich davon nichts gesehen.
Sie zogen mir die Kutte aus und legten mich darauf, wobei sie meine Arme und Beine seitlich festhielten.
»Ach, das ist doch unser Kommissar«, sagte der Mann in Weiß. Obwohl er nun neben mir stand, blieb sein Gesicht auch weiterhin
verborgen. »Das passt gut! Es ist die rechte Zeit, der Polizei eine klare Botschaft zu senden, dass sie gegen uns machtlos
ist.«
Wieder hob er das blaue Buch hoch und wartete, bis sich die braunen Kutten um das Podest drängten. Er hielt das Buch so schräg,
dass ich den Titel auf dem Einband nicht lesen konnte. Er hielt es für einen Moment über seinen Kopf, dann ließ er es langsam
herab und öffnete es dabei. Ich begriff nicht, was er anderes vorhaben könnte, außer es mir vors Gesicht zu halten.
Doch das Buch senkte sich nicht weiter. Aus der Richtung des Gangs, wo ich hergekommen war, drang ein hastiges Poltern. Menschen
näherten sich im Laufschritt. Der Großmeister rief ein Wort, das ich nicht verstand. Im selben Moment |147| erlosch der Scheinwerfer, der mich von oben anleuchtete, sodass ich hatte blinzeln müssen.
In der Dunkelheit, in die wir sanken, konnte ich nicht unterscheiden, was geschah. Ich hörte Tumult und Geräusche, die ich
nicht zuordnen konnte. Noch immer wurden meine Glieder festgehalten. Dann spürte ich, wie das Podest sich senkte. Als der
obere Teil die Höhe des Fußbodens erreichte, ließen die Hände mich los. Ich blieb steif liegen und wusste nicht, was ich in
der Dunkelheit tun sollte.
Das Dunkel wurde durchschnitten von Lichtgarben aus mindestens fünf Taschenlampen, als die Schritte zum Ende des Gangs gelangt
waren. Die Strahlen huschten im Zickzack über das Amphitheater, bis einer mich fand. Dann richteten sich alle auf mich aus,
weil niemand weiter da war. Ich hatte keine Ahnung, wohin so viele Leute in etwa zwanzig Sekunden verschwunden sein konnten.
Ich schirmte meine Augen mit der Hand ab und richtete mich langsam auf, während sie auf mich zukamen. Die Lichtstrahlen senkten
sich ein wenig, um mich nicht zu blenden. Noch immer konnte ich nicht sehen, wer die Taschenlampen hielt, doch das war auch
nicht nötig. Ich wusste, wer das nur sein konnte.
»Es wäre alles viel einfacher gewesen, Kommissar Lukić«, war aus der Dunkelheit Hauptkommissar Milenković zu hören, »wenn
Sie nicht Blindekuh mit mir spielen würden.«
»Weshalb glauben Sie, ich spiele Blindekuh mit Ihnen?«
Wieder blendete mich ein Lichtstrahl. Ärgerlich wandte ich den Kopf seitwärts.
»Was tun Sie hier im Dunkeln?«
»Es war hell, ehe Sie gekommen sind.«
»Das ist keine Antwort auf meine Frage.«
»Sie wären nicht an diesem Ort, wenn Sie nicht schon die Antwort wüssten.«
Der Lichtstrahl wanderte unter mein Kinn.
|148| »Wo sind sie?«
Ich zuckte die Schultern.
»Das möchte ich auch wissen.«
»Wie viele waren es?«
»Etwa fünfzig.«
»Bestimmt sind sie noch in der Nähe. Wir müssen schnell sein. Wir reden ein andermal darüber. Entschuldigen Sie uns jetzt.
Wir werden allein weitermachen. Bringt den Kommissar hinaus.«
Ein Lichtstrahl drehte sich wieder um, zum Gang hin.
»Bitte schön«, sagte eine Männerstimme.
Gerade stieg ich die drei Stufen hinauf, dem Lichtstrahl folgend, als sich wieder die Stimme des Hauptkommissars vernehmen
ließ.
»Haben Sie es gesehen?«
»Was?«, fragte ich, ohne mich umzuschauen.
»Das
letzte Buch
natürlich.«
»Ich habe ein Buch
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