Das letzte Buch
leise.
»Wäre nicht im letzten Moment Hauptkommissar Milenković erschienen, dann hätte das Buch mich gerichtet.«
»Wie das?«
»Ich hatte keine Gelegenheit, es zu erfahren. Der Großmeister hat es über meinem Kopf geöffnet und es langsam meinem Gesicht
genähert, da stürmte plötzlich die Geheimpolizei herein. Wie du siehst, sind sie manchmal auch von Nutzen.«
»Nur das hat er getan? Das Buch deinem Gesicht genähert? Dich nicht gezwungen, es anzufassen, darin zu blättern?«
»Nein.«
»Wie hätte es dir denn schaden können, wenn du nicht in direktem Kontakt mit ihm warst?«
Ich zuckte die Schultern.
»Das weiß ich nicht. Er hat es ja auch gehalten und geöffnet ohne jeden Schutz. Mit bloßen Händen. Allerdings sagte er, nur
der Großmeister könne frei mit dem Buch umgehen. Es scheint auf ihn nicht zu wirken.«
|152| Vera schüttelte neben mir auf dem Kissen den Kopf.
»Du glaubst doch wohl nicht an diese Dummheit? Wie kann er als Einziger immun sein gegen ein Gift, das für alle anderen tödlich
ist?«
»Natürlich glaube ich es nicht.«
»Aber wie erklärst du dir dann, dass das Buch ihm nicht geschadet hat?«
Ich lag eine Weile da, in den Anblick des wogenden Regenvorhangs am Fenster versunken, ehe ich antwortete.
»Ich sehe nur eine Erklärung. Das Buch ist gar nicht vergiftet.«
|153| 27.
Wie wahnsinnig lief ich durch einen mit Samt ausgelegten Korridor, obwohl ich nicht wusste, weshalb. Niemand verfolgte mich.
Es war nur eine ungewisse Ahnung, dass ich irgendwo hinter mir etwas Unangenehmes erlebt hatte, aber ich konnte mich nicht
erinnern, was es gewesen war.
Ich verlangsamte mein Tempo und begann normal zu gehen. Es hatte keinen Sinn zu rennen. Ich konnte nirgendwohin gelangen.
Der Korridor zog sich vor mir bis ins Unendliche. Ich brauchte mich nicht umzusehen, um mich zu überzeugen, dass er auch in
der anderen Richtung kein Ende nahm.
Als sich mein gehetzter Atem beruhigt hatte, klang von irgendwoher Musik an mein Ohr. Kaum hörbar. Ich ahnte nichts Gutes.
Eilte ich womöglich zu irgendeinem Konzert? Wenn das so war, dann kam ich zu spät!
Wieder beschleunigte ich meinen Schritt. Aber auch nachdem ich eine ziemliche Strecke gelaufen war, wurde die Musik nicht
lauter. Sie blieb leise, als wiche sie vor mir zurück.
Beiderseits des Korridors sah ich hin und wieder eine Tür, aber ohne jede Aufschrift. Wie sollte ich erkennen, hinter welcher
ein Konzert gegeben wurde? Mir fiel nichts Gescheiteres ein, als mein Ohr dagegenzudrücken.
Von der ersten Tür, an der ich lauschte, zog ich mich rasch zurück. Obwohl gedämpft, standen mir von dem Löwengebrüll dahinter
gleich die Haare zu Berge. Auch von der nächsten |154| Tür rückte ich ab, als ich das Geräusch lodernder Flammen erkannte. An der dritten Tür hielt es mich ebenfalls nicht lange.
Wenn sie nun nicht standhielte und der Wasserfall, der dahinter rauschte, sich mit aller Gewalt in den Korridor ergösse?!
Vorsichtig begann ich mich der vierten Tür zu nähern. Sie öffnete sich, noch bevor ich sie mit dem Ohr berührte. Ich fuhr
zurück, da ich eine neue Unannehmlichkeit erwartete. Doch an der Tür erschien nur eine alte, offenbar an Rheuma leidende Frau
mit einer Geige. Sie schien mir etwas sagen zu wollen, aber ein Asthmaanfall nahm ihr die Luft. Während sie nach Atem rang,
gab sie mir mit der Geige ein Zeichen einzutreten. Ich zögerte ein wenig, dann nahm ich die Einladung an.
Am rechten Ende des Raums erhob sich eine kleine Bühne. Die Vorhänge waren nach beiden Seiten aufgezogen, und dahinter befanden
sich zwei Staffeleien mit Leinwänden, die mit dem gleichen Samt wie auch im Korridor abgedeckt waren. Vor der Bühne stand
nur ein Sessel.
Noch immer hustend, gesellte sich die Geigerin zu zwei weiteren Musikern hinter dem Sessel. Der junge Mann mit Kontrabass
trug einen grellroten Schal um den Hals, und die Frau mittleren Alters mit langem schwarzem Haar und gepflegtem Äußeren hielt
eine Oboe.
Sie warteten ein wenig, bis die Alte zurückgekommen war, dann wiesen alle gleichzeitig mit einer Kopfbewegung auf den Sessel.
Wieder zögerte ich kurz, ehe ich den einzig vorhandenen Platz einnahm.
Sobald ich saß, wurde das Licht immer schwächer. Einen Moment blieben wir im Dunkeln, dann leuchtete hinter meinem Rücken
ein Scheinwerfer auf, der die zwei Staffeleien anstrahlte. Gleichzeitig ertönte Musik.
Ein Weilchen geschah nichts. Ich betrachtete das unbewegliche Bild
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