Das letzte Buch
gesehen. Ich weiß nicht, ob es das letzte war.«
»Sie hören nicht auf, Blindekuh zu spielen, was?«
»Gibt es ein besseres Spiel im Dunkeln?«
Ich wartete, ob er noch etwas sagen würde, doch hinter mir waren nur die Geräusche von Bewegungen zu hören.
»Kommen Sie«, sagte der Mann, der mir leuchtete.
Die Lichter entlang des Wegs waren ausgeschaltet, doch die Tür in dem Metallzaun stand offen. Durch sie drang die Straßenbeleuchtung
herein, sodass mir die Hilfe der Taschenlampe nicht mehr vonnöten war. Der Agent blieb trotzdem oben auf der Treppe stehen
und richtete den Lichtstrahl immer auf den Weg vor mir, bis ich hinaustrat.
Draußen stieß ich auf zwei weitere Männer. Sie sagten nichts zu mir. Wir tauschten nur kurze Blicke, und dann ging ich in
Richtung Auto durch den Regen, der wieder stärker fiel.
|149| 26.
»Er ist ganz kalt geworden«, sagte Vera, den Tee schlürfend. »Soll ich neuen kochen?«
Wir lagen im Dunkel ihres Schlafzimmers. Das große Fenster gegenüber dem Bett ähnelte einer lebhaften Arabeske. Der Regen,
der wie besessen herabströmte, zeichnete unbeständige Striche auf die Scheibe, die vom rötlichen Schein der Stadtlichter erhellt
wurde.
»Ist es nicht zu spät für Tee? Es muss doch schon Mitternacht sein.«
»Soll ich deine Erwartungen enttäuschen?«, fragte sie und stellte die Tasse auf dem Nachttisch ab. »Du bist zum Tee hergekommen,
nicht wahr?«
»Ja, aber ich habe keinen bekommen.«
»Lügner, du! Er dampfte, als du kamst.«
»Schon möglich. Aber ich habe ihn nicht trinken können.«
»Ich hatte das Gefühl, er sei dir nicht das Vordringlichste.«
»Und ich hatte gedacht, du würdest brennen vor Neugierde zu erfahren, was ich dir erzähle. Aber daran hast du offenbar als
Letztes gedacht.«
»Wie sollte ich wissen, dass du mir etwas erzählen willst? Du hast überhaupt nicht so gewirkt wie einer, der etwas sagen will.«
»Tatsächlich? Wie habe ich denn gewirkt?«
»Das weißt du sehr gut. Im Übrigen, wo ist da das Problem? |150| Du kannst es mir doch jetzt erzählen. Im Unterschied zum Tee ist deine Geschichte nicht kalt geworden, stimmt’s?«
»Ja. Aber vielleicht sollte man auch sie vor dem Schlafen meiden. Wie der Tee kann sie zu Schlaflosigkeit führen.«
»So schrecklich ist sie? Aber du hast Albträume, nicht ich. Also lass hören.«
Ich antwortete nicht gleich. Eine Zeit lang lauschte ich dem gleichmäßigen Trommeln des Regens, das untermalt wurde vom fernen
Brummen des nächtlichen Verkehrs.
»Ich habe das
letzte Buch
gesehen. Es hat einen blauen Einband.«
Wieder folgte ein kurzes Schweigen. Vera drängte sich an mich und zog die Bettdecke hoch bis zum Kinn.
»Wo hast du es gesehen?«
»Im Untergeschoss einer Villa, wo sich seine Anhänger versammeln.«
»Das
letzte Buch
hat Anhänger?«
»Ja. Einen von ihnen kennst du. Ich bin zu der Villa gekommen, indem ich Professor Einstein gefolgt bin.«
»Einstein? Ich habe nicht geahnt, dass er in etwas Düsteres verstrickt sein könnte. Er machte den Eindruck eines harmlosen
Patienten.«
»Ich denke, es wird sich auch bei den übrigen Patienten der Buchhandlung herausstellen, dass sie nicht harmlos sind. Zwar
habe ich kein einziges Gesicht gesehen, weil sie durch Kapuzen verdeckt waren, aber ich könnte wetten, bei der Versammlung
dieser Geheimgesellschaft waren auch mehrere Besucher deiner Buchhandlung dabei.«
»Was ist das überhaupt für eine Geheimgesellschaft?«
Ich seufzte.
»Nach dem, was ich verstehen konnte, ist es eine von denen, die das Ende der Welt erwarten.«
»Was hat ein Buch mit dem Ende der Welt zu tun?«
»Sein Erscheinen bedeutet den Anfang vom Ende.«
|151| »Das verstehe ich nicht.«
»Ich verstehe auch nicht viel davon. Jetzt, wo das Buch da ist, müsste etwas Furchtbares passieren. Vor dem Untergang sollten
wohl nur die Mitglieder der Geheimgesellschaft verschont werden. Und nicht einmal alle. Frau Stojanović hat es angeblich mit
ihrem Leben bezahlt, weil sie sich entschlossen hatte, selbstständig zu handeln.«
»Sie war auch in dieser Gesellschaft?«
»Ja, auch sie. Meine Intuition sagt mir, dass auch der Großmeister der Geheimgesellschaft jemand ist, den du kennst. Schade,
dass du nicht mit mir dort warst. Vielleicht hättest du seine Stimme erkannt.«
»Du hast mich nicht eingeladen, mitzukommen.«
»Sollte ich dich etwa der Gefahr aussetzen? Ich wäre ja fast selber umgekommen.«
»Tatsächlich?« Ihre Stimme wurde
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