Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das letzte Buch

Das letzte Buch

Titel: Das letzte Buch Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Zoran Zivkovic
Vom Netzwerk:
Sein Strahl richtete
     sich auf den einzigen unbesetzten Teil des Amphitheaters, den die roten Kutten wie Gardisten bewachten.
    Wie die anderen hob auch ich den Kopf, um besser zu sehen. Es dauerte gut eine halbe Minute, bis sich etwas regte. Zuerst
     schien mir, irgendwo dort unten wüchse über die Vielzahl von Kapuzen hinaus eine Erhöhung aus dem Boden. Sie schimmerte weiß
     im Licht des Scheinwerfers.
    Erst als eine Gestalt bis zu den Schultern sichtbar wurde, begriff ich, dass es sich um eine weiße Kutte handelte. Sie wuchs
     weiter heraus, bis sie sich zur Hälfte über uns zeigte. Sie war mir mit dem Rücken zugewandt und trug ebenfalls eine Kapuze,
     sodass ich ihr Gesicht nicht sehen konnte.
    Als die Gestalt nicht weiter anstieg, lösten sich die weißen Ärmel vom Körper und hoben sich seitwärts. Sie beschrieben zwei
     Kreise und kreuzten sich über dem Kopf. Kurzzeitig blieben sie in dieser Stellung, dann senkten sie sich langsam.
    »Schwestern und Brüder«, ertönte eine tiefe Männerstimme. |144| »Ihr seid euch bewusst, wie vorsichtig wir sein müssen! Wurde jemandem fälschlicherweise die Ankunft des
letzten Buches
übermittelt? Ihr wisst, was darauf folgt! Deshalb habe ich mich nach dem ersten Todesfall auch nicht gemeldet. Es hätte jemand
     dahinterstecken können, der den Glauben und die Geduld verloren hat. Es wäre nicht das erste Mal, dass einer zum Mittel des
     Selbstmords greift, in der schwachsinnigen Überzeugung, dadurch werde die Offenbarung beschleunigt! Ich habe auch nach den
     darauffolgenden beiden Todesfällen geschwiegen, obwohl es fast keinen Zweifel mehr gab, dass die lang erwartete Stunde endlich
     geschlagen hat. Ich musste uneingeschränkt sicher sein. Den endgültigen Beweis lieferte mir kein Ungeweihter, sondern einer
     aus unseren Reihen. Schwester Dragana war blind vor selbstsüchtiger Gier, sich das Recht zu nehmen, das nur dem Großmeister
     zukommt. Sie hat sich erdreistet, nach dem
letzten Buch
zu greifen – und auf der Stelle wurde sie bestraft ohne Gnade, wie ein gewöhnlicher Ungläubiger.«
    Eine Welle schien die braunen Kutten vor mir zu durchlaufen.
    »Wagt nicht, sie zu bemitleiden! Sie hat das bekommen, was sie verdient! Aber wir beschäftigen uns nicht mehr mit ihr. Ihr
     Tod ist unwichtig, wie auch der Tod der anderen. Wenden wir uns lieber der Freude zu, die uns bevorsteht. Euer Antlitz möge
     strahlen vor Glück, und eure Seele sei voller Entzücken! Möge maßloser Stolz euch erfüllen, denn das Schicksal hat uns das
     zugedacht, was es den Mitgliedern unserer Gesellschaft in vergangenen Zeiten versagt hat!«
    Er machte eine kurze rhetorische Pause. Als er erneut zu sprechen begann, war seine Stimme donnergleich.
    »Seid ihr bereit, den Erlöser demütig zu empfangen, der kommt, unsere Welt vor dem Untergang zu retten?«
    »Wir sind bereit!«, antwortete die Menschenmenge einmütig.
    |145| »Seid ihr bereit, euch gehorsam vor unserem einzigen Herrn und Gebieter zu verneigen?«
    »Wir sind bereit!«, erscholl es noch stärker von allen Seiten.
    »Seid ihr bereit, der letzten Wahrheit gegenüberzutreten?«
    »Wir sind bereit!« Alles schien zu erbeben unter der Lautstärke des Ausrufs.
    Erneut folgte eine Pause, dann erhoben sich die Ärmel wieder. Diesmal waren die Hände nicht leer. Als sich die beiden Bögen
     vereinten, prangte über der weißen Kapuze ein blaues Buch.
    Während ich darauf starrte, verspätete ich mich ein wenig, meine Stellung den anderen anzupassen. Sie waren schon auf den
     Knien, als ich mich auch hinabzulassen begann. Zum Glück war niemand hinter mir, der diese Unstimmigkeit bemerkt hätte.
    Die Stille, die nun herrschte, war wie ein Nachhall des Donners der vorangegangenen Ausrufe. Der Großmeister ließ sie andauern,
     und als er schließlich wieder zu sprechen begann, wurde sein Tonfall drohend.
    »Aber seid ihr auch wirklich bereit? Ich dringe ein in eure Gedanken, und was entdecke ich bei manchen von euch? Heimliche
     Zweifel: Wenn dies womöglich doch nicht das
letzte Buch
ist?! Euer Unglaube schmerzt mich sehr, doch an diesem großen Tag vergebe ich euch! Werdet ihr mir glauben, wenn ihr euch
     mit eigenen Augen überzeugt?«
    Die einzige Antwort war Schweigen.
    »Also gut«, fuhr der Großmeister fort, nachdem er eine Weile gewartet hatte. »Wenn dies die einzige Art ist, euch den Zweifel
     auszutreiben, dann werdet ihr das
letzte Buch
in seiner Wirkung sehen. Dafür besteht übrigens auch ein weiterer Grund. Heute

Weitere Kostenlose Bücher