Das letzte Buch
vor mir, eingehüllt von den langsamen Tönen einer |155| Sonate. Mir schien, als hätte ich sie schon gehört, aber gespielt auf anderen Instrumenten.
Wie von unsichtbarer Hand geführt, begannen die Vorhänge nach unten zu gleiten. Bald lagen sie auf dem Fußboden neben den
Staffeleien, und vor meinen Augen erschienen zwei Profile. Die Frau an der linken Seite sah bleich aus, die zur Rechten ausgesprochen
frisch. Als ich genauer hinsah, erkannte ich, worum es sich handelte. Die Erste war überhaupt nicht geschminkt, und die Zweite
hatte zu viel Schminke aufgetragen.
Das Tempo der Sonate wurde plötzlich lebhafter. Wie als Antwort auf diese Beschleunigung wurden die Bilder lebendig. Mit harmonischen
Bewegungen griffen die Frauen nach etwas am unteren Rand der Leinwand. Als sich ihre Hände in den Bilderrahmen hoben, hielten
beide ein völlig identisches blaues Buch.
Die beiden Köpfe begannen sich zu wenden. Als sie ganz nach vorn gedreht waren, schien mir, als wären ihre Blicke direkt auf
mich gerichtet. Ihre Lippen verzogen sich zu einem Lächeln.
Im selben Augenblick begriff ich, was bevorstand. Mein Körper spannte sich in dem Wunsch, aus dem Sessel aufzuspringen und
dies zu verhindern, aber so sehr ich mich auch anstrengte, ich konnte mich nicht rühren. Ich konnte nicht einmal den Mund
öffnen und »Vorsicht!« rufen.
Die Musik wurde noch schneller. Jetzt war es ein wahrer Wirbel von Tönen, wie die Ankündigung des Höhepunkts der Vorstellung.
Die Blicke von der Leinwand glitten von mir ab und konzentrierten sich auf das Buch. Ich schrie innerlich, sie sollten es
nicht tun, doch aus meiner Kehle drang nicht einmal ein Flüstern.
Die Veränderung begann in dem Moment, als die Bücher geöffnet wurden. Auffälliger war sie auf der linken Seite. Blasses verblasst
schneller. Als die blasse Frau, ohne ihr Lächeln |156| zu verlieren, völlig von der Leinwand verschwunden war, da wurde die geschminkte Frau blass. Ja, und auch sie löste sich bald
in Nichts auf. In der Mitte der beiden Bilder prangten noch einige Sekunden die blauen Bücher, als wollten sie nicht wahrhaben,
dass keine Hände sie mehr hielten, bis sie dann aus dem Rahmen heraus dorthin fielen, wo sie vor Kurzem aufgetaucht waren.
Die Musik war verstummt, doch es herrschte keine Stille. Zumindest nicht für mich. In meinen Ohren summte es, während ich
ungläubig zusah, wie sich die Samtvorhänge vom Boden erhoben und über die Leinwände legten, auf deren Mitte sich nun zwei
leere weiße Frauenprofile zeigten.
Als sich die Vorhänge an ihrem Platz befanden, erlosch der Scheinwerfer. Wieder waren wir eine Weile im Dunkeln, bis sich
endlich die Deckenbeleuchtung einschaltete. Im selben Moment spürte ich, dass ich mich wieder bewegen konnte.
Ich sprang aus dem Sessel auf, drehte mich zornig um und wollte den Musikern sagen, was ich von ihrem Konzert hielte, aber
ich blieb stumm. Die Instrumente waren auch weiterhin an ihrem Platz, nicht aber jene, die darauf gespielt hatten. An deren
Stelle waren drei neue Musiker da.
Eine flammende Gestalt hielt die Geige, hinter dem Kontrabass befand sich ein Löwe, auf die Hinterbeine gestellt, während
die Oboe aus dem oberen Teil eines Wasserfalls ragte. Alle drei waren erstarrt, doch ich begriff sofort, dass das nicht lange
so bleiben würde. Jeden Augenblick würde das Feuer auflodern, der Löwe losbrüllen und der Wasserfall zu rauschen beginnen.
Ich stürzte zur Tür, begann wie verrückt daran zu ziehen, spürte die Pranken der Panik auf mir, bis ich schließlich begriff,
dass die Tür sich nach außen öffnete. Ich flog aus dem Zimmer und hastete durch den Korridor.
|157| 28.
Es war fünf Uhr siebzehn, als ich aus dem Schlaf hochfuhr. Zum Glück richtete ich mich diesmal nicht so jäh im Bett auf, dass
ich Vera weckte. Sie schlief ruhig weiter.
Zuerst starrte ich ungläubig vor mich hin, die Bilder aus dem Traum noch vor Augen, dann beruhigte ich mich allmählich in
der Stille und Dunkelheit des frühen Morgens. Obwohl ich mich vor der Rückkehr in den Samtkorridor fürchtete, versuchte ich,
wieder einzuschlafen, doch es gelang mir nicht.
Hellwach, konnte ich nichts anderes als nachdenken. Zuerst über den Traum, der noch in mir lebendig war, danach über den vorhergehenden,
und dann über alle anderen Ereignisse, seit die Sache am Mittwochabend begonnen hatte.
Doch meine Gedanken waren verworren. Scheinbar zufällig kamen mir Fetzen
Weitere Kostenlose Bücher