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Das letzte Einhorn

Das letzte Einhorn

Titel: Das letzte Einhorn Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter S. Beagle
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Einhorn gesehen?«
    In einem einzigen Augenblick erfuhr Molly zweierlei: dass es einen Unterschied zwischen Stille und Grabesstille gibt, und dass sie mit ihrer Frage ins Schwarze getroffen hatte. Die Hagsgater gaben sich alle Mühe, unbewegte Gesichter zu bewahren, aber es gelang ihnen nicht. Drinn sagte ausweichend: »Wir sehen den Roten Stier nie, und wir sprechen nie von ihm. Nichts, was ihn etwas angeht, geht uns etwas an. Und was Einhörner anbelangt, so gibt es keine, hat es niemals welche gegeben.« Wieder schenkte er von dem dunklen Wein nach. »Ich werde euch die Worte dieses Fluches sagen.« Er faltete die Hände und sang:
     
    Wem Haggard König ist und Seneschall,
    habe teil an seinen Festen, habe teil an seinem Fall.
    Allen Geld und Gold er bringt,
    bis das Meer den Turm verschlingt.
    Nur einem aus Hagsgate wird es gelingen,
    das Schloss zu zerstören, zum Einsturz zu bringen.
     
    Einige der Anwesenden fielen mit ein, als er die alte Verwünschung hersagte. Ihre Stimmen klangen so dünn und klagend, als befänden sie sich gar nicht im Raum, sondern taumelten hoch über dem Kamin des Gasthauses wie welke Blätter. ›Was ist nur mit ihren Gesichtern los?‹ fragte sich Molly. ›Es liegt mir auf der Zunge.‹ Der Zauberer saß stumm neben ihr und drehte sein Glas in den Händen.
    »Als diese Worte zum ersten Mal gesprochen wurden, da weilte Haggard noch nicht lange im Lande. Alles war noch weich und grün und blühend – alles, außer unserer Stadt. Hagsgate war damals so, wie heute das Land ringsum ist: ein öder, unfruchtbarer Ort, wo die Menschen große Steine auf die Dächer ihrer Hütten wälzten, um sie vor dem Davonfliegen zu bewahren.« Er sah die alten Männer an und bleckte die Zähne. »Ernte einbringen! Vieh versorgen! Kohl habt ihr angebaut und Rüben und ein paar kümmerliche Kartoffeln. In ganz Hagsgate gab es eine einzige, ausgemergelte Kuh. Die Fremden hielten unsere Stadt für verflucht, dachten, sie hätte sich den Zorn irgendeiner rachsüchtigen Hexe zugezogen.«
     
    Molly spürte, wie das Einhorn auf der Straße vorüberging, umkehrte und wieder zurückkam, ruhelos wie die flackernden, zuckenden Fackeln an den Wänden. Sie wollte zu ihm hinauslaufen, doch statt dessen fragte sie leise: »Und danach, als der Fluch sich erfüllte?«
    »Von diesem Augenblick an hat uns Überfluss heimgesucht«, erwiderte Drinn. »Unser karger Boden ist so reich geworden, dass unsere Gärten und Obstwiesen von selber wachsen, wir müssen sie weder anlegen noch pflegen. Unsere Herden vermehren sich, unsere Handwerker werden im Schlaf erfindungsreicher; die Luft, die wir atmen, das Wasser, das wir trinken, bewahren uns davor, je krank zu werden. Alle Sorgen machen um uns einen großen Bogen, und all das ist geschehen, während das übrige Königreich, früher grün und fruchtbar, unter Haggards Herrschaft zu Asche verbrannt ist. Fünfzig Jahre lang ist es uns als einzigen wohl ergangen. Es ist gerade so, als wären alle anderen verflucht’«
    »Hab’ teil an seinen Festen, hab’ teil an seinem Fall«, murmelte Schmendrick. »Jetzt versteh’ ich’s.« Er schluckte ein weiteres Glas von dem dunklen Wein hinunter, dann lachte er. »Aber der alte Haggard herrscht immer noch und wird es weiterhin – bis das Meer überläuft. Ihr wisst ja gar nicht, was ein richtiger Fluch ist! Ihr solltet mal mein Unglück hören!« Plötzlich glitzerten Tränen in seinen Augen. »Zunächst einmal hat meine Mutter mich nie geliebt, sie hat zwar so getan, aber ich wusste …«
    Drinn unterbrach ihn, und Molly erkannte in diesem Augenblick, was an den Bewohnern von Hagsgate so seltsam war. Jeder von ihnen war gut und warm gekleidet, doch die Gesichter, die aus diesen feinen Kleidern schauten, waren die Gesichter von armen Leuten, gespensterbleich und ausgehungert. Drinn sagte: »Nur einem aus Hagsgate wird es gelingen, das Schloss zu zerstören, zum Einsturz zu bringen. Wie können wir unser Glück genießen, wo wir doch wissen, dass es enden muss, dass einer von uns es beenden wird! Jeder Tag macht uns reicher – und bringt uns dem Untergang einen Tag näher. Zauberer, fünfzig Jahre lang haben wir bescheiden und genügsam gelebt, haben uns von allen lieben Gewohnheiten freigemacht, alle Laster gemieden, haben uns für die Flut vorbereitet. Nicht einen Augenblick freuten wir uns an unserem Reichtum oder an irgend etwas anderem, denn Freude ist nichts als eine weitere Bürde, der man eines Tages entsagen muss. Habt

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