Das letzte Einhorn
schartig und drohend wie eines Riesen Grinsen. Molly lachte lauthals, doch das Einhorn erzitterte, denn ihm war, als griffen durch die Dämmerung die schiefen Türme zu ihm herüber. Jenseits des Schlosses blitzte stählern das Meer.
»Haggards Festung«, murmelte Schmendrick, und schüttelte verwundert den Kopf. »Haggards düstre Zwingburg. Eine Hexe hat es für ihn erbaut, doch weil er sie dafür nicht bezahlt hat, soll sie das Schloss verflucht haben. Sie schwor, es würde zusammen mit Haggard an dem Tag im Meer versinken, an dem seine Habgier dieses zum Überlaufen brächte. Dann soll sie jenen markerschütternden Schrei ausgestoßen haben, den alle Hexen beim Abgang von sich geben, und in einer Schwefelwolke verschwunden sein. Haggard zog sofort ein; er sagte, ohne Fluch sei eines Tyrannen Schloss unvollkommen.«
»Ich kann verstehen, dass er sie nicht bezahlt hat«, sagte Molly Grue verächtlich. »Ich möchte am liebsten draufspringen und es wie einen Blätterhaufen zertreten. Ich hoffe jedenfalls, die Hexe hat Unterhaltung, während sie auf die Erfüllung ihres Fluches wartet. Das Meer ist größer als die Habgier irgendeines Menschen.«
Knochige Vögel flatterten mühsam über den Himmel und krächzten »Helft mir, helft mir, helft mir!«, und kleine schwarze Schatten zuckten vor den dunklen Fenstern des Schlosses hin und her. Ein klebriger, ständig stärker werdender Dunst drang zu dem Einhorn. »Wo ist der Stier?« fragte es. »Wo hält Haggard den Stier?«
»Niemand hält den Roten Stier«, erwiderte der Zauberer leise. »Bei Nacht soll er umherschweifen und bei Tag in einer großen Höhle unterm Schloss liegen. Wir werden’s bald genug herausfinden, doch im Augenblick haben wir andere Sorgen.
Die unmittelbare Gefahr liegt dort!« Er wies in das Tal hinab, wo verschwommen einige Lichter aufleuchteten.
»Hagsgate«, sagte er. Molly schwieg; sie berührte das Einhorn, ihre Hand war so kalt wie eine Wolke. Wann immer sie traurig, müde oder ängstlich war, legte sie ihre Hand auf das Einhorn.
»Die Stadt gehört König Haggard«, sagte Schmendrick. »Es ist die erste, die er unter seine Herrschaft brachte, nachdem er übers Meer gekommen war. Sie hat einen schlechten Ruf, doch niemand, den ich danach gefragt habe, konnte mir sagen, weshalb. Niemand geht nach Hagsgate, und nichts kommt heraus, außer Märchen, mit denen man Kindern Angst einjagt, wenn sie nicht ins Bett wollen – Ungeheuer, Werwölfe, Dämonen, Hexenkonvente am helllichten Tag und dergleichen. Aber etwas Böses muss es in Hagsgate geben, denn Mammy Fortuna ist niemals hingegangen; einmal hat sie gesagt, Haggard selbst sei seines Lebens nicht sicher, solange Hagsgate bestehe.«
Während er sprach, sah er Molly an, denn in diesen Tagen war es sein einziges, schmerzliches Vergnügen, ihr trotz der weißen Gegenwart des Einhorns Furcht einzujagen. Doch sie antwortete ihm gelassen, beide Hände in die Hüften gestemmt: »Ich habe gehört, dass man Hagsgate ›Die Stadt, die keiner kennt‹, heißt. Vielleicht ist des Rätsels Lösung, dass sie auf eine Frau wartet, die das Geheimnis lüftet, auf eine Frau und ein Einhorn. Aber was sollen wir nur mit dir anfangen?« Da lächelte Schmendrick und sagte: »Ich bin Keiner, denn ein Magier ohne Magie, das ist überhaupt niemand.«
Die phosphoreszierenden Lichter von Hagsgate wurden heller, solange das Einhorn auf sie hinabsah, doch in Haggards Schloss flammte nicht einmal ein Feuerstein. Es war schon zu dunkel, um die Männer auf den Mauern herumgehen zu sehen, doch über das Tal hinweg konnte man das gedämpfte Rasseln der Rüstungen und das Klirren der Hellebarden hören, wenn sie gegen Stein stießen. Schildwachen riefen einander an und marschierten wieder davon. Der Geruch des Roten Stieres begleitete das Einhorn, als es den überwachsenen Pfad hinabstieg, der nach Hagsgate führte.
Hagsgate war wie ein Fußabdruck geformt: Von einer breiten Sohle zweigten lange Zehen ab, die in schwärzlichen Krallen endeten. Die anderen Städte in König Haggards Reich schienen wie Hühner in steiniger Erde zu scharren, Hagsgate jedoch wirkte wohlsituiert. Die Straßen waren gut gepflastert, die Gärten leuchteten, und die Häuser standen so stolz und sicher da wie Eichen. In allen Fenstern brannten Lichter, die drei Wanderer hörten Stimmen, Hundegebell und das Klappern von Geschirr. Hinter einer dichten Hecke hielten sie Rat.
»Meint ihr, wir haben irgendwo einen falschen Weg
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