Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das letzte Einhorn

Das letzte Einhorn

Titel: Das letzte Einhorn Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter S. Beagle
Vom Netzwerk:
lauf’ in das eisige Feuer, kann nicht entrinnen, und meine Beine sind die Beine eines Tieres …«
    »Lady«, unterbrach Prinz Lir sie, »Lady, ich bitt’ Euch, nicht weiter!« Ihr Traum schob sich wie ein Abgrund zwischen sie, plötzlich lag ihm nichts mehr daran, seine Bedeutung zu ergründen. »Nicht weiter«, sagte er.
    »Aber ich muss weiter«, erwiderte die Lady Amalthea, »denn er kommt nie zu einem Ende. Selbst wenn ich wach bin, kann ich nicht unterscheiden, was Wirklichkeit und was Traum, wenn ich gehe, esse und spreche. Ich erinnere, was nicht geschehen sein kann, und vergesse, was mir jetzt geschieht. Menschen sehen mich an, als sollte ich sie kennen, und in dem Traum kenne ich sie; immer näher kommen die Flammen, obwohl ich wach …«
    »Nicht weiter!« rief er verzweifelt. »Eine Hexe hat dieses Schloss erbaut; wenn man hier von Albträumen spricht, werden sie wahr.« Nicht ihr Traum machte ihn frösteln, sondern die Tatsache, dass sie nicht weinte, während sie ihn erzählte. Als Held verstand er weinende Frauen und wusste, wie man sie tröstet – gewöhnlich, indem man etwas umbrachte –, doch ihr gefrorenes Entsetzen verwirrte und entmutigte ihn. Ihr unbewegtes Gesicht ließ seine vornehme Würde zerbröckeln, auf die er so stolz gewesen war. Als er wieder sprechen konnte, klang seine Stimme jung und stammelnd.
    »Ich würde dir mit mehr Artigkeit den Hof machen, wenn ich wüsste, wie. Meine Drachen und Heldentaten langweilen dich, doch sie sind alles, was ich zu bieten habe. Ich bin noch nicht sehr lange ein Held, und bevor ich es ward, da war ich überhaupt nichts als meines Vaters unerfahrener, törichter Sohn. Mag sein, dass ich heute nur auf eine andere Art töricht bin, doch ich bin jetzt hier, und du tust Unrecht, wenn du dir nicht von mir helfen lässt. Es müsste ja nicht unbedingt eine Heldentat sein, nur etwas Nützliches.«
    Da lächelte ihn die Lady Amalthea an, zum ersten Mal, seit sie in König Haggards Schloss weilte. Es war ein winziges Lächeln, eine schmale Sichel Licht an der Grenze zur Nacht, doch Lir neigte sich ihr zu, um sich zu wärmen. Er hätte gerne seine Hände darum herumgelegt, wie um eine Flamme, hätte es gerne heller geblasen, doch wagte er es nicht.
    »Sing etwas für mich«, sagte sie. »An diesem einsamen, dunklen Ort deine Stimme zu erheben, das wäre tapfer – und nützlich. Sing für mich, lösche meine Träume aus, bewahre mich davor, das zu erinnern, was mich quält. Sing für mich, mein Prinz und Gebieter, ich bitte dich. Es mag keine Heldentat sein, doch ich wäre froh darüber.« Also sang Prinz Lir fröhlich drauflos, mitten auf der eisigen Treppe, und viele klamme, unsichtbare Tiere plumpsten und huschten vor der taghellen Munterkeit seiner Stimme in ihre schützenden Löcher. Er sang die ersten Worte, die ihm in den Sinn kamen, und die gingen so:
     
    Als ich jung war und viel von mir man hielt,
    verwöhnten mich die Frauen mit Küssen und Kosen.
    Ich sprach nie von Liebe, doch ich wusste, ich log,
    gelangweilt pflückt’ ich ihre Herzen wie Rosen.
     
    Ich sagte mir: Keine von ihnen allen kann
    das Geheimnis, das ich berge, benennen.
    Ich harre der Einen, die meine Maske durchschaut,
    und mein Lieben werd’ an dem gewissen Gefühl ich erkennen.
     
    Wie Wolken am Himmel verflogen die Jahre,
    und Frauen zogen wie Schnee dem Winde voran;
    bezaubernd betrog und heuchelnd hinterging ich,
    stete ging’s hinab die süße Sünderbahn.
     
    Ich sagte mir: Keine von ihnen allen sieht,
    dass ein Teil von mir unberührt von Prickeln und Brennen.
    Meine Lady lässt auf sich warten, doch ich bleib’ ihr treu.
    Und mein Lieben werd’ an dem gewissen Gefühl ich erkennen.
     
    Endlich kam eine Dame, die klug war und zart; sie sagte:
    »Du bist nicht, was mit meinen Augen ich seh’!«
    Ich betrog sie, bevor ihren Satz sie beendet.
    Da schluckte sie Schierling und sprang in den See.
     
    Und ich sagte mir: Solange noch Zeit für Worte ist …
    Täglich werd’ ich verderbt’ und verdorbner, deliziös und elegant.
    Ach, Liebe mag stark sein, doch Süchte sind stärker.
    Und mein Lieben hab’ an dem gewissen Gefühl ich erkannt!
     
    Als er fertig war, lachte die Lady Amalthea; die uralte Finsternis des Schlosses schien fauchend vor ihnen zurückzuweichen. »Das war sehr nützlich«, lachte sie, »ich danke dir, mein Gebieter.«
    »Ich weiß nicht, weshalb ich gerade dieses Lied gesungen habe«, erwiderte Prinz Lir unbeholfen. »Einer von meines Vaters

Weitere Kostenlose Bücher