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Das letzte Einhorn

Das letzte Einhorn

Titel: Das letzte Einhorn Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter S. Beagle
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Gedicht. Es war sehr spät, als er ihr gute Nacht wünschte. Molly saß am Tisch und hielt ihre scheckige Katze im Schoß.
    Das neue Gedicht sollte eine Sestine werden; Prinz Lir stieg fröhlich die Treppen zu seiner Kammer hinauf, in seinem Kopf hallten die Endungswörter wider, mit denen er jonglierte. »Das erste werd’ ich vor ihre Tür legen«, dachte er, »und die anderen für morgen aufheben.« Er überdachte seine ursprüngliche Entscheidung, sein Werk nicht zu unterschreiben, erwog Pseudonyme wie ›Der Ritter der Schatten‹ und ›Le Chevalier Mal Aimd, als er um eine Ecke bog und vor der Lady Amalthea stand. Sie kam rasch die Treppe herunter; als sie ihn erblickte, gab sie einen seltsamen, blökenden Laut von sich, blieb drei Stufen über ihm stehen.
    Sie trug ein Gewand, das einer der Soldaten für sie in Hagsgate gestohlen hatte. Ihr Haar hing herab, und ihre Füße waren bloß. Ihr Anblick auf der Treppe ließ solch Leid über Prinz Lirs Haut lecken, dass ihm Gedichte und Maskeraden sogleich entfielen; er wandte sich, um davonzulaufen. Doch da er in allen Lagen ein Held blieb, so drehte er sich tapfer wieder um, sah sie an und sagte gelassen und höflich: »Einen guten Abend entbiet’ ich dir, meine Lady.«
    Die Lady Amalthea starrte ihn durch das Dunkel an, streckte eine Hand aus, zog sie aber wieder zurück, bevor sie ihn berührt hatte. »Wer bist du?« wisperte sie. »Bist du Rukh?«
    »Ich bin Lir«, antwortete er. Er hatte plötzlich große Angst. »Kennst du mich nicht?« Sie wich vor ihm zurück, es schien dem Prinzen, als seien ihre Schritte so geschmeidig wie die eines Tieres und als senkte sie ihren Kopf wie eine Ziege oder ein Reh. Er sagt wieder: »Ich bin Lir.«
    »Die alte Frau«, flüsterte die Lady Amalthea. »Der Mond erlosch, oh!« Ein Zittern überlief sie, dann erkannten ihre Augen den Prinzen, doch ihr übriger Körper blieb wild und wachsam, und sie kam nicht näher.
    »Du hast geträumt«, sagte er, als er wieder höfischer Sprache fähig war. »Ich wünschte, du erzähltest mir deinen Traum.«
    »Ich habe ihn schon früher geträumt«, erwiderte sie zögernd. »Ich war in einem Käfig gefangen, und da waren andere, andere Tiere in Käfigen, und eine alte Frau. Doch ich werde euch damit nicht belästigen, mein Prinz und Gebieter. Ich habe das schon oft geträumt.«
    Sie wollte gehen, doch er sprach zu ihr mit einer Stimme, wie sie nur Helden haben, so wie viele Tiere einen bestimmten Ruf hervorbringen, wenn sie Junge haben. »Ein Traum, der immer wiederkehrt, ist sicherlich ein Bote, der dich vor Künftigem warnen oder an zu früh Vergessenes erinnern soll. Sprich mehr darüber, wenn es dir beliebt, und ich will mein Bestes geben, dies Rätsel für dich zu lösen.« Daraufhin blieb sie stehen, sah ihn mit leicht geneigtem Kopf an; immer noch erschien sie ihm wie ein schlankes, bepelztes Tier, das aus einem Dickicht äugt. Doch in ihren Augen stand ein menschlicher Ausdruck von Schmerz, als hätte sie etwas Wichtiges verloren oder erinnerte sich plötzlich an etwas, das sie nie besessen. Hätte er auch nur geblinzelt, wäre sie verschwunden gewesen; doch er zuckte mit keiner Wimper. Er hielt sie gebannt, so wie er gelernt hatte, Greife und Schimären mit festem Blick zu bannen. Ihre bloßen Füße schmerzten ihn tiefer, als es irgendein Stoßzahn oder eine messerscharfe Klaue je getan. Doch er war ein Held. Die Lady Amalthea sprach: »In meinem Traum sind schwarze, vergitterte Wagen und Tiere, die sind und nicht sind, und ein geflügeltes Wesen, das im Mondlicht klirrt wie Eisen. Der große Mann hat grüne Augen und blutige Hände.«
    »Der große Mann muss dein Onkel sein, der Zauberer«, grübelte Prinz Lir. »Dieser Teil ist klar genug, die blutigen Hände überraschen mich nicht. An seinem Anblick ist mir nie viel gelegen, wenn du meine offene Rede verzeihen willst. Ist das der ganze Traum?«
    »Ich kann ihn dir nicht ganz erzählen«, sagte sie, »denn er ist nie zu Ende.« Furcht kehrte in ihre Augen zurück, wie ein großer Stein in einen Teich fällt: alles wölkte sich wirbelnd, schnelle Schatten schossen überallhin. »Ich laufe von einem guten, sicheren Ort weg, und die Nacht rings um mich steht in Flammen. Doch zur gleichen Zeit ist es Tag, ich wandle in warmem, herbem Regen unter großen Buchen, Schmetterlinge und süße Töne umgeben mich, getüpfelte Straßen und Städte wie Fischgräten, und das geflügelte Wesen tötet die alte Frau. Ich laufe und laufe,

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