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Das letzte Einhorn

Das letzte Einhorn

Titel: Das letzte Einhorn Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter S. Beagle
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Schönheit der Lady Amalthea war jetzt menschlicher Art und vergänglich, es lag in ihr kein Trost für alte Männer. Ihnen blieb nichts übrig, als ihre tropfnassen Mäntel fester um sich zu ziehen und zu dem schwachen Feuer in der Küche hinabzuhinken.
    Doch die Lady Amalthea und Prinz Ur wandelten und sprachen und sangen so glückselig, als hätte sich König Haggards Schloss in einen grünen Wald verwandelt, blühend und schattend vor Lenz. Sie erstiegen die schiefen Türme, als wären es Hügel, picknickten auf Steinwiesen unter steinernem Himmel, planschten Gänge hinauf und hinunter, die sich für sie in muntere Bäche verwandelt hatten. Er erzählte ihr, was er nur wusste, vertraute ihr an, was er über die Welt und über die Liebe dachte, ersann ein gemeinsames glückliches Leben für sie beide; und sie half ihm dabei, indem sie ihm lauschte. Sie spielte ihm nichts vor, denn sie konnte sich an nichts mehr erinnern, was vor ihm und Haggards Schloss gewesen war. Ihr Leben begann und endete mit Prinz Lir – außer in den Träumen, und die verblassten bald, wie Lir es vorhergesagt.
    Nur noch selten vernahmen sie bei Nacht des Stieres Jagdgebrüll; doch wenn sie das drohende Grollen hörte, dann fürchtete sie sich sehr; der Winter und die Wände richteten sich wieder steil vor ihnen auf, so als wäre ihr gemeinsamer Frühling ganz allein die Schöpfung der Lady Amalthea gewesen, das ihrer Freude entsprungene Geschenk an Prinz Lir. Zu solchen Zeiten hätte er sie in die Arme geschlossen, wenn er nicht schon lange ihre Furcht vor Berührungen erkannt hätte.
    Eines Nachmittags stand die Lady Amalthea auf dein höchsten Söller des Schlosses und wartete auf Prinz Uns Heimkehr von einer Ausfahrt gegen den Schwager jenes Ogers, den er damals erschlagen hatte. Der Himmel türmte sich grau und seifig über dem Tal von Hagsgate, doch es regnete nicht. Weit drunten glitt das Meer in silbernen, grünen und tangbraunen Streifen auf einen rauchigen Horizont zu. Die hässlichen Vögel flogen ruhelos zu zweien oder dreien umher, kreisten mit schnellen Schwingen über dem Wasser, kehrten zurück und stolzierten am Strand auf und ab, krächzten und kreischten, beäugten mit schiefen Köpfen König Haggards Schloss auf dem Kliff. »Sagteso, sagteso!« Die Ebbe war auf ihrem niedrigsten Stand, gleich musste die Flut einsetzen.
    Die Lady Amalthea sang. Ihre Stimme schwebte und schwankte in der trägen, kalten Luft wie ein Vogel:
     
    Ich bin eine Königstochter
    und werde grau und alt,
    gefangen nicht im Kerker,
    im Turm der eigenen Gestalt!
    Noch heut ließ’ alles Gut ich fahren,
    zög’ bettelnd über Land und Meer …
     
    Sie erinnerte sich nicht, dieses Lied schon einmal gehört zu haben, doch die Worte zupften und zerrten an ihr wie Kinder, die sie an einen Platz zurückziehen wollten, den sie gern wiedergesehen hätten. Sie schüttelte sie mit einer Schulterbewegung ab.
    »Aber ich bin doch nicht alt«, sprach sie vor sich hin, »und ich bin keine Gefangene, Ich bin die Lady Amalthea, Geliebte des Prinzen Lir, welcher in meine Träume kam, damit ich nicht einmal im Schlaf mehr an mir zweifle. Wo könnte ich ein Lied von Leid gelernt haben? Ich bin die Lady Amalthea, und ich kenne nur die Lieder, die mich Prinz Ur gelehrt.«
    Sie hob eine Hand und berührte das Mal auf ihrer Stirn. Das Meer rollte ruhig und regelmäßig wie der Tierkreis, die hässlichen Vögel schrien. Es beunruhigte sie ein wenig, dass das Mal nicht verschwinden wollte.
    »Eure Majestät«, sagte sie, obwohl nicht das geringste Geräusch zu hören gewesen war. Sie hörte ein rasselndes Lachen in ihrem Rücken, wandte sich und sah den König. Er trug über seiner Rüstung einen grauen Mantel, doch sein Haupt war unbedeckt. Die tiefen Furchen in seinem Gesicht zeigten, wo die Krallen der Zeit seine harte Haut herabgefahren waren, doch er sah stärker aus als sein Sohn und wilder.
    »Du bist schnell für das, was du bist«, sagte er, »doch langsam für das, was du warst. Man sagt, die Liebe mache Männer flink und Frauen träg. Ich werde dich bald einholen, wenn du noch mehr liebst!«
    Sie lächelte ihn ohne Antwort an. Sie wusste nie, was sie zu dem blaßäugigen alten Mann sagen sollte, den sie so selten sah, und auch dann nur wie einen Schatten an der Küste des Eilandes, das sie und Prinz Lir bewohnten. Tief im Tal blitzte eine Rüstung auf, und sie hörte den Hufschlag eines müden Pferdes, klappernd auf nacktem Gestein. »Dein Sohn kehrt heim«,

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