Das letzte Evangelium: Historischer Roman (German Edition)
weiß genau, dass ich ihn kenne, aber ich kann mich nicht an sein Gesicht erinnern. Oder ob er mir feindlich gesinnt ist. Er weiß, dass ich Cesare geheiratet habe und nun die Contessa Colonna Orsini bin. Ist diese Ehe in seinem Sinne? Wohl kaum. Denn Cesare ist tot.
Was, wenn Latino sich das Erbe, das Herrschaftsgebiet der Orsini, zurückholen will, das durch Cesares Tod an mich gefallen ist? Seit Jahrzehnten kämpfen die Colonna und die Orsini erbittert um die Macht in Rom und liefern sich immer wieder blutige Straßenschlachten. Was, wenn Latino mich ermorden will? Außer ihm weiß vermutlich niemand in Aquila, dass ich noch lebe. Was, wenn er das Mandylion an sich reißen will?
»Sandra, du …«
Mit Wucht lasse ich meine Faust auf den Tisch niederfahren, sodass das Reliquiar des Mandylions erzittert. Erschrocken zuckt er zusammen.
»Beantworte meine Frage!«, herrsche ich ihn an.
»Ich bin Prospero Colonna«, blafft er zurück. »Dein Cousin.«
»Beweise es!«
»Wie denn?«
»Gib mir deinen Siegelring!«, fordere ich resolut.
Fluchend zieht er den Ring vom Finger und reicht ihn mir.
Tatsächlich, die aufrecht stehende Säule. Das Wappen der Colonna. Das Hoheitszeichen der Orsini ist eine rote Rose.
Ich gebe ihm den Ring zurück.
Im Gegenzug wirft er einen gefalteten Brief auf den Tisch. Das Pergament ist blutgetränkt, das Siegel ist zerbrochen.
»Was ist das?«, fahre ich ihn an.
»Ein Brief, den du mir geschrieben hast.«
Ich greife danach, klappe die steifen Pergamentseiten auf und überfliege die ersten Zeilen. Tatsächlich, das ist meine Handschrift, dieselbe krakelige Schrift wie im Notizbuch:
Prospero ,
es ist so weit. Die Zeit des Abschieds ist gekommen …
Mein Abschiedsbrief aus Byzanz? Und mein Testament?
Wessen Blut ist das auf dem Pergament?
Und wer hat ihm dieses Schreiben übergeben?
Unwillig werfe ich den Brief zurück auf den Tisch und fahre mir über die Stirn. Was habe ich geschrieben? Wen habe ich zu meinem Erben bestimmt?
»Wie wäre es mit einer Entschuldigung?«, fragt er aufgebracht. Meinen Ton will der Kardinal, der sich in der Rolle des nächsten Papstes gefällt, offenbar nicht hinnehmen.
»Nein.«
Jetzt schmollt er. »Resolut, wie immer. Temperamentvoll, willensstark und eigensinnig, eben eine Colonna. Erinnerst du dich, wie oft wir uns in den letzten Jahren gestritten haben?«
»Nein.«
»Wenn wir beide aneinandergeraten, kann man unseren Streit im ganzen Palazzo hören. Angelo sagte einmal, ich hätte dich so laut angebrüllt, dass der Audienzsaal von Papst Martin nun Risse in den Wänden hat.«
Ich muss tief durchatmen, um mich zu beruhigen. »Wer ist Angelo?«
»Er war dein Sohn. Mit Konstantins Bruder Niketas«, sagt er erbarmungslos, was mich noch mehr reizt. »Ein Gassenjunge aus Rom, den ihr beide an Sohnes statt angenommen hattet. Angelo wurde vor sechs Jahren ermordet.«
Kein Wort mehr, Sandra!
Ich knirsche mit den Zähnen, aber ich sage nichts mehr.
Also gut, Rückzug!
Mein Sohn ist tot. Ermordet. Wie mein Vater. Wie Yared. Wie Elija. Wie Cesare.
Solange ich mich an solche Ereignisse, die mein Leben in Schutt und Asche legen, nicht erinnern kann, darf ich mich mit ihm nicht anlegen. Er kann mit mir dasselbe tun wie Jibril, und das weiß er genau. Er kann mein Gedächtnis fälschen, er kann mich in die Irre führen, belügen, betrügen und verraten. Und ich kann mich nicht dagegen wehren.
Ich kann nur so tun, als würde ich glauben, dass er der ist, der zu sein er vorgibt. Du täuschst mich, ich täusche dich. Und dann geht das Spiel, dessen Regeln ich mittlerweile beherrsche, in die nächste Runde.
Gibt es denn kein Entkommen aus diesem Albtraum?
Kapitel 66
In der Zelle des Abtes
22. Dezember 1453
Kurz nach halb drei Uhr nachmittags
Prospero springt auf und klopft voller Ungeduld auf die Oberschenkel. »Allora, andiamo. Gehen wir.«
»Wohin?«, frage ich entgeistert und starre auf die Hand, die er mir entgegenstreckt.
»Wir suchen das Mandylion. Na komm schon, Sandra! Es ist bald vorbei!«
»Was meinst du?«
Er sieht mich an. »Jibril kann bald zurückkehren. Dann will ich auf dem Weg nach Aquila sein.«
Ich stehe auf, reiche ihm wortlos seinen Dolch, der die ganze Zeit neben mir auf dem Tisch gelegen hat, und folge ihm, die Hand am Griff von Jibrils Klinge in meinem Gürtel, hinaus in den Gang.
»Wo ist die Bibliothek?« Prospero tritt zur Seite und lässt mir den Vortritt. »Ich würde mir gern die Geheimkammer ansehen.«
Ich
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