Das letzte Evangelium: Historischer Roman (German Edition)
gehe die Treppe hinunter. Am Fuß drehe ich mich um und warte auf ihn. »Wieso?«
Er schiebt mich vor sich her durch den Gang mit den Treppenstufen. »Rumpelkammern üben einen unwiderstehlichen Reiz auf dich aus. Ich kann mir vorstellen, dass du das Mandylion dort versteckt hast.«
»Adrian und Lionel haben die Kammer längst durchwühlt.«
Mit sanfter Gewalt stößt er mich in die Bibliothek. Ich gehe einige Schritte weiter, während er an der Tür stehen bleibt und sich umsieht. Ich merke ihm an, dass ihn der Anblick der verwüsteten Bibliothek entsetzt: Hunderte von kostbaren Folianten sind verschwunden. Nur verstaubte Spinnweben hängen in den Regalen.
Sonst nichts.
Doch, da drüben!
Eine Ikone. An der Wand.
Während Prospero die Tür der Geheimkammer öffnet und einen Blick hineinwirft, gehe ich zur Ikone hinüber.
»Was ist?«, fragt Prospero. »Sandra?«
Als ich nicht antworte, folgt er mir. Er bleibt neben mir stehen und betrachtet das Heiligenbild. »Byzantinisch«, meint er. »Ein ganz außergewöhnliches Bild.«
»Die Nacht im Garten Getsemani«, sage ich mit tonloser Stimme. »Evangelium des Lukas, Kapitel zweiundzwanzig.«
Was geht hier vor?
»Sieh dir diesen Jesus an!«, ruft Prospero verzückt aus. »Sein Gesicht sieht aus, als ob es von innen heraus strahlt! Mein Gott, wie schön diese Ikone ist! Wie einzigartig!«
Mir ist plötzlich schwindelig, alles dreht sich um mich. Als zöge eine unsichtbare Kraft mich in eine andere Szene, wie vorhin in meinem Traum.
Ganz weit entfernt kann ich Prospero reden hören. Er wundert sich über den Malstil der Ikone, die aus Kreta oder Rhodos, vielleicht aber auch aus Naxos, Mykonos oder Santorin stammen könnte. Er fragt sich, was ein orthodoxes Heiligenbild in dieser verlassenen Abtei zu suchen hat.
Geschieht das wirklich?, frage ich mich und starre die indigofarbene Nachtszene an. Bin ich wach? Oder träume ich?
Woher kommt dieses Sirren, dieses durchdringende Dröhnen, das die Luft beben lässt? Und wieso bewegt sich der Boden unter meinen Füßen?
»Sandra? Was ist mit dir?« Prospero legt seinen Arm um meine Schultern und hält mich fest. »Sandra! Um Gottes willen, was hast du denn?« Er schüttelt mich. »Kannst du mich hören? Sag doch was!«
Ich lehne meine schweißnasse Stirn an seine Schulter. Hitze wallt durch meinen Körper, und es fühlt sich an, als stünde ich mitten in einem lodernden Feuer. Meine Haut glüht, und ich zittere am ganzen Körper. Ich bin müde, so müde. Ich bin am Ende meiner Kräfte.
Konstantin legt mir die Hand auf die Schulter. Mit dem Handrücken wischt er sich über das rußgeschwärzte Gesicht. Sein Harnisch ist rot vom Blut und schwarz vom Pulverdampf. Er ist genauso abgekämpft wie ich.
»Geht es wieder?«, fragt Cesare besorgt, als ich mich schwankend aufrichte. Das Donnern der Kanonen und das Dröhnen der Kirchenglocken sirrt so laut in meinen Ohren, dass ich ihn kaum verstehen kann. Cesare zieht den Kampfhandschuh aus und streicht mir zärtlich eine schweißnasse Strähne aus der Stirn. »Ruh dich aus, mein Schatz. Wenigstens eine Stunde. Du bist völlig erschöpft.«
Plötzlich geschieht etwas ohne Vorwarnung: Ich spüre einen reißenden Schmerz, der mir den Atem raubt und der mein Herz rasen lässt, sodass ich fürchte, gleich setzt es aus …
»Vittorio!«, brüllt Prospero mit sich überschlagender Stimme und hält mich mit beiden Armen fest. »Vittorio, komm schnell!«
Cesare umarmt mich und redet beruhigend auf mich ein, und auch Konstantin weicht nicht von meiner Seite.
Ganz leise höre ich Vittorio rufen. Oder ist es Federico? »Euer Eminenz?«
»Komm sofort!«, brüllt Prospero. Oder Cesare? »Die Contessa wird ohnmächtig.«
Kapitel 67
In der Bibliothek
22. Dezember 1453
Viertel vor drei Uhr nachmittags
und
Auf den Mauern von Konstantinopolis
29. Mai 1453
Gegen sechs Uhr morgens
»Nein, ich werde nicht ohnmächtig«, keuche ich und sehe Cesare an, der beide Arme um mich gelegt hat, damit ich nicht zu Boden sinke. »Alles in Ordnung.«
»Sicher?«, fragt er besorgt nach.
Ich nicke schwach. Der Schmerz in meiner Brust ist unerträglich, und mein Herz flattert wie eine aufgescheuchte Taube. »Meine Hochzeitsnacht hatte ich mir anders vorgestellt«, quäle ich hervor.
»Ich auch.« Cesare haucht mir einen Kuss auf die Lippen. Er schmeckt nach Blut und Sprengpulver. »Ich liebe dich.«
»Ich liebe dich auch.« Traurigkeit überwältigt mich.
»Geht es wieder?«
Ich werfe einen Blick
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