Das letzte Evangelium: Historischer Roman (German Edition)
den nächsten Tag vermutlich nicht überleben, hätte ich meinen besten Freund ganz sicher nicht aus machtpolitischen Gründen geheiratet. Vielleicht aus Freundschaft, vielleicht aus Liebe, ich weiß es nicht mehr. Vielleicht habe ich aber auch die Einsamkeit nicht mehr ertragen. Vielleicht wollte ich nur nicht allein sterben, sondern gemeinsam mit ihm.
Ich mustere Prospero. Irgendetwas stimmt nicht. Aber was? Sein plötzliches Auftauchen? Sein Verhalten? Oder ist es ganz einfach die Situation, die mich vorsichtig sein lässt? Misstrauisch. Und aufgewühlt.
Mit dem Finger tippt er auf die Karte von Konstantinopolis. »Das Jahr 1204 – der unselige vierte Kreuzzug der Venezianer, die unter der Führung des Dogen Enrico Dandolo Konstantinopolis eroberten. Die Stadt wurde geplündert, und die frommen christlichen Kreuzfahrer wüteten noch schlimmer als die Türken.« Prospero verzieht das Gesicht. »Wie auch immer! In den Wirren der Eroberung wurde das Grabtuch Christi von den Templern geraubt und nach Frankreich gebracht. Die Urenkelin eines der Templer, die mit Jacques de Molay auf dem Scheiterhaufen starben, hat es vor einigen Monaten dem Herzog von Savoyen vermacht. Und das Mandylion, das in derselben Kirche Santa Maria in Blachernae aufbewahrt wurde, verschwand spurlos. So scheint es jedenfalls.«
»Dramatische Pause.«
Er schmunzelt.
»Du hast jetzt meine volle Aufmerksamkeit.«
Er lacht leise. »Das Mandylion ist also ganz offiziell ›verschwun den‹«, sagt er und malt die Anführungszeichen mit den Fingern in den Luft. »Und trotzdem – höre und staune! – verkauft der byzantinische Kaiser im Jahr 1246 eine Kopie des Mandylions an König Louis den Heiligen von Frankreich. Kannst du mir noch folgen?«
»Mysterien, Rätsel und Geheimnisse fordern mich unwiderstehlich heraus, aber bei Wundern muss ich leider passen.«
Prospero lächelt matt. »Diese Kopie des Mandylions befindet sich in der Sainte-Chapelle in Paris. König Charles hat sie dir vor vier Jahren gezeigt, als du nach deinem Abenteuer auf dem Mont-Saint-Michel nach Rom zurückgekehrt bist und in Paris Station gemacht hast.«
»Interessant.«
»Aber nicht so interessant wie die Tatsache, dass es in Rom noch zwei Kopien gibt. Eine im Lateran, eine im Vatikan. Du kennst beide Kopien schon seit deiner Kindheit. Dein Cousin, Papst Martin, hat sie dir gezeigt, als du acht Jahre alt warst.«
»Ich kann mich nicht erinnern. Wie sieht das Mandylion aus?«
»Eine Skizze, die du während deiner Vorbereitungen für deine diplomatische Mission nach Byzanz im Geheimarchiv des Vatikans gefunden hast, zeigt das elfenbeinfarbene Tuch straff gespannt und von einem rautenförmigen Gitter aus Goldfäden durchzogen, die das Gesicht in der Mitte wie mit einem Heiligenschein umschließen und die an den Seiten in Fransen auslaufen. So wurde das Tuch, auf eine Holzplatte gespannt, vor 1204 aufbewahrt. Das Gesicht Jesu ist nur ganz schwach in sepiafarbenen Schattierungen zu erkennen.« Prospero schlägt mein Notizbuch auf und zeigt mir die Skizze des Mandylions, die ich nach meinem Besuch zusammen mit Konstantin in der Kapelle angefertigt habe. »Die Skizze aus dem Geheimarchiv zeigt eindeutig das Mandylion. Auf der Kopie im Vatikan ist jedoch ein dunkel bronzefarbenes Gesicht mit schulterlangem Haar und geteiltem Bart zu sehen. Das Tuch als Symbol für das Mandylion besteht aus Gold und umrahmt das auf Holz gemalte Gesicht.«
»Keine Ähnlichkeit.«
»Nein, keine.«
»Ich nehme an, der Papst will mein Mandylion …« Prospero hebt die Augenbrauen, als ich die allerheiligste Reliquie der Christenheit mit einem besitzanzeigenden Pronomen schmücke. »… mein Mandylion in den Vatikan bringen.«
Seine Lippen zucken, und nur mühsam kann er sich ein selbstgefälliges Lächeln verkneifen.
»Und ich nehme an, du willst dein Mandylion …« – Jetzt guckt er aber! – »… in den Palazzo Colonna bringen.«
»Sobald die Kirche wieder fest in der Hand der Colonna ist, wie zu Zeiten, als mein Onkel Papst war, und ich nach dem nächsten Konklave endlich Pontifex bin, werde ich mein Mandylion mit in den Vatikan nehmen. Und dort wird es in meinem Thronsaal hängen.«
»Oder ist es nicht der Palazzo Colonna, sondern der Palazzo Orsini?«
So, jetzt ist es heraus!
Mit einem Ruck setzt er sich auf. »Hast du den Verstand verloren?«
»Bist du Kardinal Colonna? Oder bist du Kardinal Orsini?«
Latino Orsini ist Cesares Cousin.
Kardinal Latino.
Ich kenne ihn, ich
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