Das letzte Evangelium: Historischer Roman (German Edition)
ist?«, fragt er irritiert.
»Ich bin todmüde«, wiegele ich ab und atme tief durch. »Und wie gelangte das Mandylion nach Byzanz?«
»Der Kaiser ließ das Tuch 944 als göttlichen Schutz aus Edessa holen, das damals unter der Herrschaft des Kalifen von Bagdad stand. Am 15. August traf das Palladion des Reiches in einer herrlichen Prozession, als käme der Gottessohn selbst, in der Königin der Städte ein. Ein Chronist beschreibt, wie die allerheiligste Reliquie in einem Schrein unter Freudentränen, Jubelrufen, Psalmen, Hymnen und Gebeten durch die ganze Stadt getragen wurde, wie eine zweite Bundeslade, doch noch kostbarer als diese. Die Byzantiner glaubten, dass durch dieses mächtige Palladion die Stadt Konstantinopolis ebenso heilig, stark und unbesiegbar würde wie Jerusalem. Die Festrede, die damals gehalten wurde und deren Abschrift du im Geheimarchiv des Vatikans gefunden hast, verdeutlicht das: ›O heiliges Bild Jesu Christi, unseres Herrn. Schütze den Basileus, der fromm und gütig über uns Byzantiner herrscht. Behüte seine Kinder, und lass ihre Herrschaft ewig währen. Gewähre Frieden für das Reich, und erhalte die Königin der Städte als stark und uneinnehmbar. Amen.‹« Er wedelt mit der Hand. »Oder so ähnlich.« Dann atmet er tief durch. »Die Krönung der tagelangen festlichen Zeremonien war, als das Mandylion in seinem Schrein abgesetzt wurde …« Prospero deutet auf das Reliquiar zwischen uns auf dem Tisch. »… auf dem kaiserlichen Purpurthron im goldenen Thronsaal des Palastes.«
»Jesus Christus als Kaiser von Byzanz.«
»Und der Basileus – und nicht der Bischof von Rom! – als sein Stellvertreter auf Erden.«
»Aus diesem Grund will der Papst das Mandylion haben«, vermute ich. »Als allerheiligste Reliquie des lebendigen Jesus Christus. Als Legitimation seines Amtes als Oberhaupt der durch die Kirchenunion …«
»… die du in Byzanz gegen den Kaiser durchgesetzt hast …«, ergänzt Prospero selbstgefällig.
»… vereinigten katholisch-orthodoxen Kirche …«
»… die von Portugal bis Indien und von Island bis Äthiopien reicht.«
»Und als mächtiges Palladion der Kirche, die Rom schützen soll wie einst Byzanz.«
Prospero faltet die Hände und lehnt sich in seinem Sessel zurück. »Prägnant formuliert, wie immer.« Seine Augen funkeln, während er neckt: »Wieso glaubst du, du wärst verrückt?«
»Und der Großmeister der Johanniter will das Mandylion des Erlösers aus demselben Grund nach Rhodos bringen. Als Palladion soll es das Reich der Johanniter vor der Eroberung durch Sultan Uthman al-Mansur bewahren.«
»Genau.«
Ich spitze die Lippen und nicke bedächtig. »Und wozu willst du die Reliquie haben?«
Jetzt habe ich ihn da, wo ich ihn haben will!
Kapitel 65
In der Zelle des Abtes
22. Dezember 1453
Gegen halb drei Uhr nachmittags
Prospero wirkt überrumpelt, ja sogar erschrocken. Doch er hat sich schnell wieder in der Gewalt. Er setzt sich aufrecht hin, legt die Ellbogen auf die Knie und blickt mich ernst an. »Ich will Papst werden.«
»Prägnant formuliert. Dein Bekenntnis lässt keinen Spielraum für irgendwelche anderen Auslegungen.«
Er lächelt matt. »Du und ich, wir sind uns sehr ähnlich. Dieselbe Leidenschaft, dieselbe Entschlossenheit, dasselbe Temperament.«
»Aber nicht dasselbe Streben nach Macht. Wären wir uns ähnlich, hätte ich Konstantin geheiratet und wäre Kaiserin geworden.«
»Cesare Orsini zu heiraten war eindeutig die bessere Wahl.«
Aha! Jetzt kommen wir der Sache näher!
»Findest du?«, frage ich ihn betont arglos.
»Komm schon, Sandra, lass den Unsinn. So dumm bist du doch gar nicht.«
Ich hebe beide Hände, als ob ich mich ergebe. »Touché.«
»Sag mal, was ist denn plötzlich in dich gefahren?«, fragt er und sieht mich wütend an. »Lass die Spielchen, Sandra, sei so gut. Was ich eben sagen wollte: Mit diesem Bündnis zwischen den Colonna und den Orsini ist dein Hoheitsgebiet größer als das byzantinische Reich, über das Konstantin herrschte. Es ist so stark, dass der Papst ohne dich und deine Bravi keine Macht in Rom hat. Und so sicher, dass der Papst es vorzieht, auf der Flucht vor irgendwelchen Attentätern im dichtesten Schneetreiben durch dein Hoheitsgebiet zu irren und in Aquila Weihnachten zu feiern, als am warmen Kamin im Vatikan zu bleiben. Ganz ehrlich, die Ehe mit Cesare war, machtpolitisch betrachtet, ein brillanter Schachzug.«
Dazu sage ich besser nichts.
Wenn ich gewusst hätte, dass wir
Weitere Kostenlose Bücher