Das letzte Evangelium: Historischer Roman (German Edition)
bleibt reglos liegen.
Stille.
Ich gebe Cesare die Armbrust zurück, hänge mir die Tasche wieder über die Schulter und renne los.
Das Portal ist nicht verschlossen.
Cesare und ich packen die beiden Toten und schleifen sie in den Narthex der Kapelle. Dann betreten wir das Hauptschiff und hetzen an den Säulen aus grünem Jaspis vorbei. Die Basen bestehen aus weißem Marmor, die Kapitelle sind vergoldet, die Wände der Seitenschiffe mit farbigen Marmorplatten verkleidet. Ich richte den Blick hinauf zur Kuppel der kreuzförmigen Basilika, wo die goldenen Mosaiken im Morgenlicht funkeln.
Die Hagia Sophia mag die größte Kirche der Welt sein, die majestätischste und die ehrfurchtgebietendste, aber diese Kapelle ist noch viel prunkvoller. Dass die venezianischen Kreuzfahrer 1204 angesichts dieser Pracht den Verstand verloren haben und die Schätze nach Venedig schleppten, wundert mich nicht. Das Grabtuch Christi befand sich damals in der nahen Kirche Santa Maria in Blachernae, die 1434 völlig niederbrannte. So wie Cesare und ich drangen die Templer damals in die Kirche ein und rissen das Grabtuch aus seinem Reliquiar. Warum sie das Mandylion nicht auch mit in den Tempel von Paris nahmen? Das Grabtuch war ausgestellt, das Mandylion jedoch nicht. Nur der Kaiser durfte Jesus Christus, dessen Stellvertreter auf Erden er war, von Angesicht zu Angesicht betrachten. Nur der Kaiser gebot über die allerheiligste Reliquie der Christenheit, die als Palladion das Byzantinische Reich schützte.
Ich hetze die Stufen hinauf zur Ikonostasis, reiße den golddurchwirkten Vorhang vor der Königstür zur Seite und betrete das Allerheiligste mit dem Altar. Links von der Apsis steht der Rüsttisch mit Teller und Kelch für die Eucharistie, rechts erkenne ich die Truhen mit den liturgischen Gewändern. Hinter dem Altar in der mit Mosaiken geschmückten Apsis steht der Thron.
Die Tür links führt in das kaiserliche Bad, wo sich der Basileus vor dem Gottesdienst durch Untertauchen rituell reinigte und umkleidete, die Tür rechts führt ins Parakklesion, das kleine Sanktuarium, wo das Mandylion aufbewahrt wird.
An vier goldenen Ketten hängt der kostbare Reliquienschrein aus Gold und funkelnden Juwelen von der Kuppel der düsteren Kapelle herab, die von neun Kerzen erleuchtet wird.
Auf den ersten Blick wirkt der Schrein des Mandylions wie eines jener wuchtigen Weihrauchfässer, die in großen Kathedralen wie Santiago de Compostela von mehreren Mönchen, die sich in die Seile hängen, über den Köpfen der Pilger durch das Hauptschiff bewegt werden, um die Kirche in einen dichten Nebel aus Weihrauch zu hüllen.
Ich stoße das Reliquiar an, und es beginnt zu schwingen.
Ein Rumpeln, das bis in die Kapelle hallt, lässt mich erschrocken zusammenzucken.
»Das Portal«, flüstert Cesare. Er legt einen Bolzen ein und spannt die Armbrust. Dann huscht er zurück ins Allerheiligste und späht durch die Königstür in die Kapelle.
Das Portal zum Kaiserpalast ist unser einziger Fluchtweg.
Mit klopfendem Herzen luge ich ins Allerheiligste. Cesare kniet hinter dem Vorhang und zielt ins Hauptschiff.
»Und?«
»Nichts.« Er springt auf und kommt zu mir zurück. »Wir haben keine Zeit mehr zu verlieren. Jeden Augenblick können die Türken kommen. Das Portal wird nicht mehr bewacht.«
»Kannst du das Reliquiar festhalten, während ich das Schloss aufschließe?«
Cesare legt die Armbrust auf den Boden, stellt sich hinter den goldenen Schrein und hebt ihn ein wenig an. Ich ziehe den Schlüssel, mit dem ich die Ketten vom Reliquiar lösen kann, unter meiner Rüstung hervor.
Wieder ein Rascheln.
Ganz nah.
Wie erstarrt blicke ich über Cesares Schulter zum Allerheiligsten. Dort steht Fra Diniz im zerfetzten blutigen Habit und zieht sein blutrot schimmerndes Schwert. Langsam tritt er in das düstere Parakklesion. Rasch werfe ich Cesare einen raschen Blick zu. »Fra Diniz.«
Mit einer geschmeidigen Bewegung wirbelt Cesare herum und geht auf den Johanniter los, der nur wenige Schritte hinter ihm stehen geblieben ist.
Überrascht taumelt Fra Diniz nach hinten und reißt sein Schwert hoch. Mit einem lauten Scheppern, das durch die Kapelle hallt, prallen die Klingen aufeinander.
Ein wütender Kampf entbrennt, und Cesare gelingt es, Fra Diniz mit wuchtigen Hieben bis zur Marmorwand neben der Tür zurückzudrängen. Der Johanniter blutet an der Schulter, doch mit verbissener Miene verteidigt er sich gegen Cesare, der immer wieder auf ihn
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