Das letzte Evangelium: Historischer Roman (German Edition)
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Kapitel 94
In der Zelle des Abtes
22. Dezember 1453
Viertel vor neun Uhr abends
Prospero ,
es ist so weit. Die Zeit des Abschieds ist gekommen. Die Stadt wird in den nächsten Stunden fallen , und ich mit ihr. Wenn Du diese Zeilen liest , bin ich tot.
Ich habe keine Angst , verletzt zu werden oder zu sterben. Aber ich fürchte mich davor , zu versagen und die Menschen , die mir ihr Leben anvertraut haben , zu enttäuschen und im Stich zu lassen.
In diesem schweren Augenblick trauere ich um alle , die ich in den letzten Jahren verloren habe. Niketas und Angelo , Yared und Elija. Ich weine um sie. Und ich weine um mich selbst , die ich zwei Söhne und zwei Ehemänner zu Grabe getragen habe. Den dritten werde ich , so Gott will , nicht mehr begraben müssen.
Vor wenigen Stunden habe ich Cesare geheiratet. Er hat mich darum gebeten , und ich habe nach all den Jahren endlich nachgegeben. Nicht weil ich an seiner Seite auf Liebe , Glück und Lebensfreude hoffe , sondern weil ich , wie er , nicht allein sterben will , sondern mit meinem treuen Freund an meiner Seite , dem besten , den ich jemals finden konnte. Cesare hat mich niemals im Stich gelassen , obwohl er enttäuscht war , als ich mit Niketas in Florenz zusammenlebte und , nach seinem tragischen Tod , Yared nach Granada folgte. Cesare hat immer treu zu mir gestanden , in guten wie in schlechten Zeiten , in Glück und Unglück , auch als vor sechs Jahren mein Scheiterhaufen brannte , hat er sich zu mir bekannt. Und selbst mein Liebesabenteuer mit Uthman hat er mir vergeben.
Cesare und ich , wir werden zusammenbleiben bis zu unserem letzten Herzschlag und unserem letzten Atemzug. Keiner muss den anderen begraben und die verwelkten Blumen vom Grab fegen , keiner muss um den anderen trauern. Damit bin ich zufrieden. Aber glaub ja nicht , dass ich in den letzten Stunden vor meinem Tod bescheiden geworden bin! Nein. Ich bin so selbstsüchtig wie immer. Ich könnte es nicht ertragen , nach Niketas und Yared , die ich beide sehr geliebt habe , auch noch Cesare zu verlieren und um ihn trauern zu müssen. Nein , Prospero , ich will nicht , dass mir wieder alles fortgerissen wird , was mein Leben ausgemacht hat. Die Hoffnung , die Sehnsucht , die Leidenschaft und die Liebe. Und die ausgelassene Freude und der Spaß , die ich mit meinen beiden Ehemännern hatte. Nein , ich will nie wieder einen Menschen so sehr vermissen , dass ich mich in den Schlaf weinen muss. Und ich will nie mehr daran denken , dass ich meine Söhne nicht aufwachsen sehen konnte , weil Angelo mit achtzehn starb und Elija mit zehn. Der Gedanke , dass ich nichts hinterlassen werde und dass ich nach meinem Vater die Letzte bin , ist nur schwer zu ertragen.
Als ich vor einigen Stunden Jibril traf , der nach seiner Flucht aus Granada die Gelübde abgelegt hat und Professritter im Johanniterorden geworden ist , habe ich begriffen , was ich alles verloren habe. Was er durch seinen Verrat und den Mord an Yared und Elija angerichtet hat. Jibril hat mir das Herz herausgerissen , bei lebendigem Leib.
Schon bevor ich gestern meinen Geliebten wiedersah , habe ich darüber nachgedacht , ob ich wieder ein Kind adoptieren soll , einen kleinen Jungen , um ihn wie Angelo und Elija an Sohnes statt anzunehmen. Ich habe mit Cesare darüber gesprochen , und er hat zugestimmt , weil er weiß , dass ich ihm keine Kinder schenken kann. Wie ich braucht er einen Erben. Aber am Ende blieb zu wenig Zeit , um durch die Gassen um den Kaiserpalast zu streifen und ein Kind zu suchen , denn der Kampf gegen Mehmed hielt uns beide Tag und Nacht in Atem.
So ist es nun. Ich habe keinen Erben. Aber ich habe einen Cousin , der immer wie ein älterer Bruder für mich war.
Es tut mir leid , dass wir uns in den letzten Jahren so oft gestritten haben , weil Du Angelo gegen mich aufgehetzt hast , als er beschloss , wie mein Vater Mönch zu werden. Es tut mir leid , dass ich nicht öfter für Dich da war , als Du mich gebraucht hast. Und es tut mir leid , dass wir im erbitterten Streit auseinandergegangen sind. Ich kann mich beim besten Willen nicht erinnern , worum es eigentlich ging. Aber ich vermute , dass wir wieder einmal wegen einer Nichtigkeit aneinandergeraten sind.
Vergib mir , Prospero , so wie ich Dir vergebe. Vergib mir meinen Stolz , meinen Eigensinn und mein ungestümes Temperament. Ich wollte Dir niemals wehtun.
Ich wünsche Dir ein Leben ohne Leiden. Ich wünsche Dir so viel Liebe , wie ich in meinem Leben hatte.
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