Das letzte Evangelium: Historischer Roman (German Edition)
Glocken und blickt mich unverwandt an. Wartet er darauf, dass ich schreie, dass ich tobe, dass ich ihn verfluche?
Was habe ich getan?
Die Flammen schlagen immer höher. Die Hitze des Feuers hat den Raureif auf den Holzscheiten schmelzen lassen und das Reisig getrocknet. Funken stieben auf. Das Tosen ist ohrenbetäubend laut, die Luft um mich herum flirrt glühend heiß. Ich ringe nach Atem. Meine Lunge brennt. Meine Augen tränen.
Jetzt dauert es nicht mehr lange. Das lodernde Inferno frisst sich unaufhaltsam durch das Holz. Meine Haut glüht schmerzhaft. Schon bald wird mein Büßergewand Feuer fangen. Nein, jetzt dauert es nicht mehr lange.
Plötzlich ein Schrei.
»Il nuovo papa!«
Ein Aufruhr wogt durch die Menge. Dann steht er vor mir und sieht zu mir auf.
Die brennenden Holzscheite werden weggerissen. Dann werden meine Fesseln vom Pfahl gelöst, und ich werde vom Scheiterhaufen hinuntergehoben. Im dichten Schneetreiben hocke ich zitternd und weinend im Schneematsch des Campo dei Fiori.
Ein weißer Ornat mit schlammbespritztem Saum taucht neben mir auf. Jemand kniet sich neben mich in den Schnee und schließt mich unendlich behutsam in die Arme. Er sagt meinen Namen, aber ich kann ihn nicht verstehen. Das Feuer des Scheiterhaufens tost noch in meinen Ohren.
Er ist es!, denke ich jetzt, während ich, noch ganz in meiner Erinnerung gefangen, den Ring mit dem Siegel des Königs Salomo betrachte. Er ist derselbe Mann im weißen Ornat, der mich in meinem Albtraum angefleht hat, das Mandylion zu retten. Wer ist er? Il papa – der Papst?
Höchste Zeit, dass ich mich erinnere.
Gil wird bald zurückkehren.
Ich muss mein Notizbuch suchen. Auf den ersten Seiten hatte ich in kodierter Geheimschrift etwas über meinen Auftrag geschrieben. Ich muss wissen, was das Mandylion ist. Und wo ich es vor Gil und Galcerán versteckt haben könnte.
Plötzlich befällt mich wieder ein dumpfes, lähmendes Gefühl. Etwas wird geschehen, etwas Schreckliches.
Ein Echo aus der Vergangenheit – der Widerhall einer Erinnerung im Haschischrausch?
Oder eine Vorahnung?
Es gibt Geschichten, beunruhigend und bedrohlich, deren Ende man so sehr fürchtet, dass man es nicht hören will.
In so einer stecke ich fest.
Kapitel 13
In der Zelle des Abtes
21. Dezember 1453
Kurz nach vier Uhr nachmittags
Bestimmt gibt es eine Logik in diesem Durcheinander. Es muss eine geben, und ich werde sie finden!, rede ich mir ein, während ich mich hastig ankleide: Hemd, Hose, Jacke, Reitstiefel. Den zerknitterten Zettel stopfe ich in den Stiefelschaft.
Es wird Zeit, dass ich wieder auf die Beine komme. Ich brauche Bewegung. Unbedingt! Das merke ich, als ich hinüber zum Tisch taumele, wo noch immer der Schlüssel liegt. Er führt zur Lösung der Rätsel, aus denen mein Leben besteht – das ahne ich.
Gil hat kein Schloss gefunden, das mit dem Schlüssel geöffnet werden kann. Sonst hätte er ihn mir nicht zurückgegeben.
Ich hänge mir den Schlüssel um den Hals und mache mich auf den Weg.
Langsam taste ich mich zur Tür vor, damit das Knarren der Holzbohlen mich nicht verrät. Die Klinke quietscht leise, als ich sie hinunterdrücke und die Tür öffne.
Ich blicke nach draußen: ein düsterer, unbeleuchteter Gang, der zu einer Treppe nach unten führt. Offenbar bin ich im obersten Stockwerk.
Da vorn, wenige Schritte entfernt, ist eine Tür!
Während ich mich vorwärtskämpfe, stütze ich mich an der Wand ab. Mein Herz rast, und mein Kopf dröhnt vor Anstrengung. Wieder kann ich das Glockenläuten und den Kanonendonner hören. Feuer lodert vor meinen Augen. Und die Erde bebt so stark, dass mir schwindelig wird.
Nein, keine Erinnerung, nicht jetzt!
Ich konzentriere mich auf den Weg zur Tür und kämpfe gegen die scharfkantigen, blutigen Erinnerungssplitter an, die sich schmerzhaft in meinen wundgedachten Verstand bohren.
Durch beißenden Pulverdampf und lodernde Flammen taumele ich bis zur Tür und stoße sie auf. Hastig stolpere ich in den Raum, schließe die Tür hinter mir und lehne mich schwer atmend dagegen. Der Blutrausch der Schlacht bleibt draußen.
Der Kopfschmerz, die Übelkeit, der Schwindel, die fiebrigen Schweißausbrüche … all die Symptome, die die psychischen Qualen der letzten Stunden noch verstärkt haben … Ich habe das Gefühl, dass ich von Stunde zu Stunde schwächer werde. Als würde ich mich mit letzter Kraft durch eine zähflüssige Masse kämpfen, die langsam zu Eis erstarrt. Ich bin so müde, so unerträglich
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