Das letzte Evangelium: Historischer Roman (German Edition)
zweite los, gefolgt vom dritten.
Ein Wolf bleibt zurück, ein kräftiges, silbergraues Tier mit dichtem Winterpelz. Er hat seine Zähne in das Fleisch der Gämse geschlagen und zieht den Kadaver rückwärts von mir fort. Er will seine Beute verteidigen. Sein Atem geht stoßweise.
Ich nehme das lange Küchenmesser vom Tisch, mit dem Gil offenbar die Gämse aufgebrochen hat, und gehe langsam um den Tisch herum, auf dem Steingutkrüge mit Gewürzen und Töpfe und Pfannen aus Kupfer stehen.
Der Wolf zieht sich mit seiner Beute noch weiter in die Ecke zurück, duckt sich und knurrt mich an. Er gibt nicht auf.
Während ich auf ihn zugehe, nehme ich eine kupferne Pfanne vom Tisch und schleudere sie mit aller Kraft gegen die Steinwand hinter ihm. Mit einem Scheppern kracht die Pfanne gegen die Wand und poltert neben dem Wolf zu Boden.
Panisch lässt der Wolf die Gämse los, springt mit einem schrillen Jaulen auf, flitzt schlitternd mit eingeklemmtem Schwanz über den glatten Steinboden zur Tür und ist in der Dunkelheit jenseits des Lichtscheins des Kaminfeuers verschwunden. Draußen im Schnee höre ich ihn noch knurren, als berichte er den anderen über seine heldenmütige Verteidigung der Beute, dann ist das ganze Rudel verschwunden. Kurz darauf höre ich ein durchdringendes Heulen – die Wölfe markieren ihr Revier.
Das kann eine unruhige Nacht werden!
Entschlossen packe ich die Gämse an den Hinterläufen, ziehe sie zurück zum Tisch und wuchte sie mit letzter Kraft hoch auf die Platte. Mit dem scharfen Küchenmesser schneide ich einen Bissen rohes Fleisch heraus und stecke ihn in den Mund. Ich habe Hunger. So wie damals, während der Belagerung von Byzanz.
Während auf einem Spieß im Feuer meine Abendmahlzeit einen anregenden Duft verbreitet und in der Asche darunter in einem Topf Eiszapfen zu Wasser zerschmelzen, entzünde ich mit einem Kienspan ein Talglicht. Gil wird bald zurückkehren – ich muss endlich die geheime Botschaft aus dem Versteck im Schlüssel sichtbar machen.
Kapitel 19
In der Küche
21. Dezember 1453
Kurz vor halb sechs Uhr abends
In der Flamme der Kerze verfärbt sich die Geheimtinte schemenhaft braun. Ich nehme das Pergament aus der Flamme, streiche es glatt und betrachte es.
Eine Karte der Abtei. Die Ställe für die Pferde, daneben ein Innenhof, der zu den Stufen führt, wo ich Gil und Lionel vorhin gesehen habe.
Das abgewinkelte Gebäude neben der Kirche beherbergt im obersten Stockwerk das Schlafzimmer des Abtes und das Dormitorium der Mönche. Darunter befinden sich die Werkstatt, das Scriptorium und die Bibliothek mit der Geheimkammer, darunter wiederum der Keller, die Lagerräume und die Küche.
Das Portal, das ich vorhin geschlossen habe, nachdem das Wolfsrudel geflüchtet ist, mündet auf einen Hof. Der endet vor dem Aufgang zum Châtelet und der Kirche.
Das kleine Kreuz nahe der Einsiedlergrotte macht mich stutzig.
Ist dieser Zettel eine Schatzkarte? Welcher Schatz liegt bei dem Kreuz vergraben? Das Mandylion?
Ich zögere.
Wer einen Schatz vergräbt, zeichnet keine Karte, damit er gefunden wird. Das Kreuz muss etwas anderes bedeuten. Noch ein Rätsel …
Sobald ich das gegrillte Fleisch gegessen und die Spuren meines Aufenthalts in der Küche beseitigt habe, breche ich auf.
Mit der Karte in der Hand trete ich hinaus ins Schneegestöber und schließe die Tür zum Aedificium hinter mir. Dann gehe ich einige Stufen hinunter in den Hof, der nach wenigen Schritten auf die gestuften Rampen mündet. Nach links führen verschneite Stufen hinauf zum Châtelet, dem befestigten Eingangsportal der gewaltigen Abteiburg, die an eine Templer- oder Johanniterfestung erinnert, an Krak des Chevaliers in Syrien oder an Tomar in Portugal. Majestätisch ragt der schwarze Schattenriss der Abteikirche über mir auf.
Die Kirche an der höchsten Stelle der wie aufeinandergestapelten Gebäude, Kapellen und Türme scheint aus dem schroffen Fels des Berges emporzuwachsen. Sie wird von Fialen gestützt. Wie gewaltige Torbögen, die jeweils übereinander errichtet wurden, überragen die Fialen die steilen Stufen, die zwischen Aedificium und Kirche in den Himmel hinaufzuführen scheinen, denn das Ende der Treppe kann ich wegen des niedersinkenden Nebels und des dichten Schneetreibens nicht erkennen. Die Fialen der Stützkonstruktion sind nicht so elegant und prächtig wie die von Notre-Dame de Paris, aber der Anblick der mit Schnee und Eis verzierten Bögen ist trotzdem beeindruckend.
Wieso ist
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