Das letzte Evangelium: Historischer Roman (German Edition)
diese Ehrfurcht gebietende Abtei verlassen worden?
Mit dem Blick auf meinen Plan, den ich mit der Hand vor dem Schnee schützen muss, steige ich hinauf zu einer Terrasse vor dem Eingang des Châtelets unterhalb der Abteikirche. Die Plattform endet an einer Brüstung, die in einer Schneeverwehung versinkt. Ich kämpfe mich durch den tiefen Schnee, lehne mich gegen die Mauer und blicke hinunter in den Abgrund.
Durch die dunklen Wolken kann ich die umliegenden Berge und Schneefelder nicht erkennen. Doch hinter den Baumwipfeln am steilen Felsabhang erahne ich das Tal, wo es schon Nacht geworden ist. Dort unten liegt die verlassene Templerkomturei, wo sich Adrian und Lionel verbergen. Ich stelle sie mir vor wie einen befestigten Gutshof, mit Wehrmauer und Turm und einer kleinen Kirche, die zum Teil eingestürzt ist.
Aus dem Tal dringt ganz leise Glockengeläut zu mir herauf. Und Kanonendonner. Ich halte den Atem an. Der Donner wird immer lauter.
Glockenläuten und Kanonendonner.
Ein tosender Feuersturm – der Lärm der Schlacht sirrt in meinen Ohren. Ich bin so angespannt, so konzentriert, dass ich beinahe zu Tode erschrecke, als sich plötzlich eine Hand auf meine Schulter legt.
Ich wende mich zu ihm um.
Kapitel 20
Vor dem Portal des Châtelets
21. Dezember 1453
Kurz vor sechs Uhr abends
Es ist Konstantin. Wie ich trägt er Helm und Harnisch.
»Deckung!«, brüllt Tannhäuser hinter mir.
Konstantin packt mich an der Schulter und reißt mich zu Boden, als wieder ein Pfeilhagel auf uns niedergeht. Brandpfeile sirren über uns hinweg, prallen auf den Wehrgang und setzen die Holzbalken in Brand. Ein Pfeil kracht in ein Pulverfass neben einer Kanone. Es explodiert mit einem dumpfen Knall und einer schwarzen Rauchwolke. Ein kleiner Junge, sieben oder acht Jahre alt, der beim Nachladen der Geschütze hilft, bricht zusammen. Sein abgerissener Kopf rollt über die Holzplanken. Gequält wende ich den Blick ab.
Konstantin sieht mich von der Seite an. »Dein künftiger Gemahl hat mir gesagt, was du vorhast.«
Die Mauer zittert und bebt unter dem ohrenbetäubenden Aufprall einer neuen Kanonenkugel. Steinsplitter und Staub prasseln auf uns nieder und rauben uns den Atem. In meinen Ohren sirrt es laut und schrill. Ich bin beinahe taub.
War das der letzte Schuss? Nein! Ich lehne mich über die Brüstung und beobachte aufmerksam die Türken, die den Belagerungsturm näher heranschieben. Jetzt ist er nur noch fünfzig Schritte von der Mauer entfernt.
Während der Nacht haben die Türken den gewaltigen Turm, der die Bastionen der Außenmauer überragt, bis an den Graben herangerollt. Mein Blick gleitet über den hölzernen Rahmen, der mit steifen Kamelhäuten und eisernen Schutzschilden behängt ist. Sie schützen die Besatzung, die auf Leitern im Turm hinauf- und hinunterklettern kann, vor den Bolzen aus unseren Armbrüsten. Vorhin habe ich einige Schuss abgefeuert, doch die Bolzen, die sonst einen Stahlpanzer durchschlagen können, prallten an den Kamelhäuten ab. Von der Plattform auf dem Turm kann eine Zugbrücke zur Erstürmung der Mauer heruntergelassen werden. Der untere Teil des Turms ist mit Baumstämmen, Reisig, Steinen und Erde gefüllt und daher so stabil, dass selbst unsere Kanonen ihm nichts anhaben können. Damit schütten die Türken den Graben vor unserer Mauer zu, während ein dichter Pfeilhagel der Bogenschützen, die den Grabungsarbeitern Deckung geben, uns daran hindert, sie aufzuhalten.
Die Türken bereiten sich also auf einen Sturmangriff auf den Mauerabschnitt vor, der unter meinem Kommando steht. Schon heute Nacht kann die Stadt fallen. Daher ist es mein Plan, den Turm zu sprengen.
»Ich will nicht, dass du gehst!«, ruft Konstantin. Er ist genauso taub wie ich. »Viel zu gefährlich.«
Ich lache. »Ist das ein Sprüchlein für meine Sammlung berühmter letzter Worte?«
Er atmet tief durch. »Du könntest sterben.«
»Auf dem Weg in die Hölle nehme ich ein paar Türken mit.«
Er ringt die Hände und stöhnt verzweifelt. »O Gott, Sandra!«
»Konstantin, lass mich! Du glaubst doch nicht im Ernst, dass Mehmed dich oder mich am Leben lässt, wenn er die Stadt erobert?« Ich deute hinüber zum Padi ş ah, der gerade an den Reihen seiner vorrückenden Männer vorbeigaloppiert, um sie anzutreiben.
Konstantins Blick folgt meinem ausgestreckten Arm. Langsam schüttelt er den Kopf. »Die venezianische Flotte wird nicht mehr rechtzeitig kommen. Unsere Vorräte an Waffen, Munition und Lebensmitteln
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