Das letzte Evangelium: Historischer Roman (German Edition)
Furchtbares geschehen wird, nur eine ungenaue Erinnerung daran, dass schon längst etwas Entsetzliches geschehen ist? Bin ich verrückt?
Meine Finger zittern so sehr, dass ich beim Umblättern beinahe die Seite zerreiße.
Jibril wird mit keinem Wort mehr erwähnt. Wie es scheint, habe ich ihn in der Kapelle des Mandylions, wo Galcerán Cesare tötete, zum letzten Mal gesehen. Bis er mich gestern ins Leben zurückrief, um mich gleich darauf für tot zu erklären und zu begraben.
Mein Herz rast. Ich atme tief durch, um mich zu beruhigen.
Ich werde mich erinnern, Jibril! An jeden Augenblick meines Lebens! Das schwöre ich dir! Und wenn du eine Schuld trägst an Yareds oder Cesares Tod, dann gnade dir Gott der Allmächtige!
Als ich das Buch zuklappen will, stoße ich auf zwei zusammengeklebte Seiten. Ich rieche an dem Buch. Das Pergament riecht noch nach Leim. Ich erinnere mich, dass ich gestern eine Schale mit Knochenleim in der Werkstatt des Scriptoriums gefunden habe. Aber wieso habe ich die beiden Seiten zusammengeklebt?, frage ich mich verwirrt. Was steht dort, dass ich …
Schritte auf der Treppe. Jibril kommt zurück!
Hastig werfe ich das Notizbuch auf den Tisch, eile zurück zum Bett und krieche unter die Bettdecke. Dann tritt er in den Raum …
Kapitel 51
In der Zelle des Abtes
22. Dezember 1453
Kurz nach halb acht Uhr morgens
… und schließt die Tür hinter sich.
»Geht es dir gut?«, fragt er besorgt. »Du siehst so blass aus.«
Ich zwinge mich zu einem erschöpften Lächeln.
»Das Frühstück ist gleich fertig. Ich bringe dich hinunter in die Küche.«
»Ist gut.«
Vor der Reisetruhe mit meinen Sachen bleibt Jibril stehen. Er kniet sich auf den Boden und hebt den Deckel an.
Der Schreck fährt mir in die Glieder, meine Hände und Füße prickeln, und ich bin plötzlich ganz lahm. Meine Kleidung, die ich letzte Nacht in die Truhe gestopft habe, muss noch ganz nass sein vom Schnee …
Jibril holt einen Stapel ordentlich gefalteter Kleidungsstücke aus der Truhe, legt sie sich über den Arm, nimmt die Stiefel heraus und kommt zu mir herüber, nachdem er den Deckel mit einem lässigen Tritt wieder geschlossen hat.
Er reicht mir meine ordentlich gefaltete Unterwäsche, die ich verdattert anstarre. Sie ist frisch gewaschen und duftet noch nach Galceráns Lavendelseife und dem Holzfeuer, vor dem sie getrocknet wurde.
Ich fühle mich, als stünde ich im lodernden Feuer.
Jibril weiß es!, denke ich. Er weiß, dass ich gestern versucht habe zu fliehen!
Und jetzt?
»Komm, ich helfe dir.« Mit Schwung schlägt er die Bettdecke zurück, sodass ich aufstehen und mich ankleiden kann. Unterwäsche, Hemd, Hose, Jacke, Stiefel. Alles sauber, duftend und trocken.
Ich verstehe das nicht. Das kann nicht sein …
Jibril greift von hinten in meine langen Haare. Dabei berühren seine Finger zärtlich meinen Nacken. Wie selbstverständlich flicht er mein Haar zu einem Zopf. Dann haucht er mir einen Kuss in den Nacken. Ich zucke zusammen, denn seine Lippen schlagen Funken aus meiner Haut, seine sanften Berührungen fügen mir Schmerzen zu.
Plötzlich packt er mich von hinten und hebt mich hoch. Mein Kopf liegt an seiner Schulter, als er mich die Treppen hinunter in die Küche trägt. Dort setzt er mich auf eine Holzbank am Tisch vor dem Kamin.
Während er sich um die Kupferpfanne mit dem brutzelnden Gämsenfleisch kümmert, sehe ich mich in der Küche um. Die aufgebrochene und zerlegte Gämse ist verschwunden. Der Tisch ist ordentlich gedeckt: eine brennende Kerze, ein Krug mit Rotwein, Holzteller und Zinnbecher, jedoch kein Besteck. Die Messer … ich wende mich zum Regal an der Wand hinter mir um … sind außer Reichweite.
Mein Cavalier servente fürchtet mich, obwohl ich so viel schwächer bin als er.
Gut zu wissen.
»Pfeffer?«, fragt er, ohne sich zu mir umzudrehen. Seine Schultern sind angespannt, sein Kopf ist leicht geneigt, als lausche er, was ich hinter seinem Rücken treibe.
»Ich hab’s gern scharf.«
Er streut reichlich schwarzen Pfeffer über das schmurgelnde Fleisch, dann gießt er einen Becher Wein in die heiße Pfanne, der sofort zu brodeln und zu verdunsten beginnt. Ein verführerischer Duft weht mir um die Nase. Hab ich einen Hunger!
Unruhig rutsche ich auf der Holzbank am Tisch hin und her.
»Jibril?«
Als ich ihn plötzlich mit seinem maurischen Namen anspreche, zuckt er regelrecht zusammen. Er dreht sich nicht zu mir um und klappert mit der Pfanne auf dem Gestell im Feuer, um
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