Das letzte Evangelium: Historischer Roman (German Edition)
die Totenfeier, kein Johanniterhabit, nichts.
»Hast du deinen Freund heute Nacht begraben?« Ich warte Jibrils Antwort nicht ab, entreiße ihm die flackernde Kerze, die er gerade eben vom Altar geholt hat, sodass das heiße Wachs über meine Hand spritzt, werfe mich herum und stürme zum Gang, der in die aus dem Fels gehauenen Krypten führt.
Da ist die Grabnische.
Verwirrt bleibe ich stehen. Mein Verstand sucht verzweifelt nach einer Erklärung für das, was ich da sehe.
Meine Gruft ist verschlossen.
Der Epitaph mit meinem Namen, der während meiner Flucht vor dem Yeniçeri letzte Nacht an der Felswand lehnte, ist verschwunden.
Jibril tritt neben mich und sieht mich von der Seite an, während ich meine Finger über den rauen Felsrand gleiten lasse. Er sagt kein Wort.
Ich erinnere mich noch genau, wie ich gestern früh meine Hand unter größten Anstrengungen über den Rand dieser Gruft geschoben habe, während er und seine Henkersknechte oben in der Kirche mein Totengebet sangen: De profundis clamavi ad te Domine. Ich weiß noch, wie der düstere Gesang mich in Todesangst versetzte, weil ich lebendig begraben werde. Ich spüre noch den Fels unter meinen Fingerspitzen. Ich fühle noch die Kälte dieser Gruft. Ich rieche noch den Gestank der verwesenden Leiche neben mir. Ich schnuppere, kann jedoch nichts riechen außer dem Duft nach heißem Wachs von der Kerze in meiner Hand.
Was geht hier vor?
Mein Blickfeld verengt sich, als ob ich in einen finsteren Tunnel hineinschaue, dann wird mir plötzlich schwarz vor Augen, und ich bin wie gelähmt. Ich habe wieder einen Aussetzer! Ich strecke meine Arme aus, weil ich mich an der Wand festhalten will, verfehle sie jedoch und taumele gegen Jibril, der mich auffängt und in seine Arme schließt.
»Ganz ruhig, mein Schatz. Ich halte dich«, flüstert er und küsst mich zärtlich.
Ich lehne meine Stirn gegen seine Schulter und atme tief durch. Ich zittere vor Wut. Schließlich richte ich mich wieder auf und sehe ihm in die Augen.
»Es gab eine Grabplatte«, sage ich mit bebender Stimme. Ich muss mich zur Ruhe zwingen, bevor ich weitersprechen kann. »Alessandra Colonna Orsini, Tochter von Luca d’Ascoli. Geboren in Rom am 2. April 1415, gestorben in Konstantinopolis am 29. Mai 1453. Contessa, Vikarin des Papstes und Legatin der heiligen römischen Kirche.« Ich räuspere mich, denn meine Stimme droht zu versagen. Meine Kehle ist wie zugeschnürt, und das Atmen fällt mir schwer. »Darunter stand das Requiem aeternam.«
Jibril schüttelt traurig den Kopf. »Nein«, sagt er leise.
»Ich habe sie gesehen.«
»Du hast in meinen Armen geschlafen.« Seine Stimme ist sanft und leise, als wolle er mir nicht wehtun. »Vertrau mir.«
»Wie kann ich jemandem vertrauen, der denkt, ich sei verrückt?«, bricht es aus mir heraus. Am liebsten würde ich meine Worte mit den Fäusten in ihn hineinprügeln. »Und der alles tut, um mich in den Wahnsinn zu treiben?«
Er bricht innerlich zusammen, als habe ich ihn geschlagen. Er lässt mich los, zieht die Schultern hoch, als fürchte er noch einen Angriff, und blickt mich traurig an. »Al-Iskandra …«
Also doch!
Ich bin nicht Adriana, sondern Alessandra! Adriana de Zafra ist nur einer der Namen, unter denen ich reise, wenn ich nicht erkannt werden will. Eine Adriana de Zafra, deren Geleitschreiben von Sultan Muhammad von Granada und König Juan von Kastilien unterzeichnet wurde, gibt es nicht. Alessandra Colonna aber gibt es sehr wohl.
Ich spüre, wie heiße Wut in mir hochsteigt.
Jibril, du Verräter!
Mit aller Kraft schlage ich zu und treffe ihn so hart an der Schläfe, dass er mit erschrocken aufgerissenen Augen zurücktaumelt und gegen die Felswand prallt. Blut rinnt ihm über die Wange. Mein Saphirring hat ihm die Haut aufgerissen.
Santo Cielo, wie gut das tut! Die Wut und der Hass zerfließen in einem wohligen Gefühl der Erleichterung. Mit einem heftigen Ruck ramme ich ihm mein Knie in den Unterleib, sodass er keuchend vor Schmerz an der Wand hinunter zu Boden rutscht und mir dabei den Zorn Allahs androht.
»Tut das weh?«, fauche ich ihm höhnisch entgegen und nehme ihm den Dolch ab. »Sei unbesorgt, mi cariño, gleich hört der Schmerz auf. Das verspreche ich dir!«
Als ich ihm die scharfe Klinge an die Kehle lege, verstummt er sofort. Und als ich mit der rechten Hand seinen Nacken umfasse, weiten sich seine Augen vor Entsetzen. Er weiß, was ich vorhabe. Der Griff kann tödlich sein. Mit den Fingerspitzen taste
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