Das letzte Evangelium: Historischer Roman (German Edition)
weinen.
»Alles wird gut«, tröstet er mich. »Du bist noch schwach, mein Schatz. Ich habe mir solche Sorgen gemacht, als du dich vorhin im Bett hin und her geworfen hast. Du hast seit gestern Nachmittag unruhig geträumt, im Schlaf geschrien und um dich geschlagen! Immer wieder musste ich dich zudecken, weil du die Bettdecke weggestrampelt hattest. Bald wird es dir besser gehen. Das verspreche ich dir.«
Wovon redet er? Wieso glaubt er, ich habe seit gestern Nachmittag geschlafen und geträumt?
»Kommen die Erinnerungen zurück?«
Ich schüttele den Kopf. »Nein.«
»Du wirst dich erinnern, ich verspreche es dir.« Ganz sanft berührt er die Wunde an meinem Kopf. »Sag mal, was hältst du von einem Frühstück im Bett? Du musst hungrig sein. Du hast gestern kaum etwas gegessen, bevor du eingeschlafen bist. Und dann kuscheln wir noch ein bisschen unter der Decke …«
Ich mache einen tiefen Atemzug. »Ich möchte aufstehen.«
Er zögert und gibt sich enttäuscht. »Wie du willst.« Er haucht mir einen Kuss auf die Lippen. »Kann ich dich einen Augenblick allein lassen, mein Schatz? Ich bereite in der Küche das Frühstück vor. Dann komme ich und hole dich.«
»Ist gut.«
»Ruh dich noch ein bisschen aus.« Besorgt streicht er mir eine Strähne aus der Stirn. »Du bist so blass. Und zittrig.«
Du lieber Himmel, Jibril! Hat der Engel der Sanftmut dich berührt? Das ist ja mal ganz was Neues! Was ist mit deiner Wildheit, deinem hitzigen Temperament und deiner Leidenschaft passiert? Sag dem Engel, er soll sie dir zurückgeben. Jetzt sofort.
Jibril haucht mir einen Kuss auf die Lippen und springt aus dem Bett. Er öffnet die Fensterläden. Das blaue Licht der Morgendämmerung ergießt sich in den Raum und drängt die Schatten zurück.
Es schneit immer noch. Fein wie Staub rieseln die Eiskristalle herab, so fein, dass man ein Funkeln erwartet, ein Glitzern, wie von Diamanten.
Mit halb geschlossenen Lidern rekele ich mich ins Kissen, während ich Jibril beobachte, wie er rasch in Hemd, Hosen und Stiefel schlüpft und das Feuer im Kamin schürt. Dann geht er zur Tür und schenkt mir ein Lächeln. »Bin gleich zurück.«
Die Tür lässt er nur angelehnt, sodass ich seine Schritte auf der Treppe hören kann. Der Steinsplitt, der letzte Nacht auf den Stufen lag, ist offenbar verschwunden.
Ich setze mich auf und sehe mich im Zimmer um. Auf dem Tisch liegt immer noch der zerbrochene Schlüssel, den Jibril letzte Nacht zusammengefügt hat. Daneben liegt mein Notizbuch.
Ich springe aus dem Bett, husche zum Tisch und schlage die Seite mit meiner Skizze von Jibril im schwarzen Habit der Johanniter über seiner Rüstung auf. Heute habe ich Jibril gesehen. Und alle Erinnerungen an Granada, die ich so gern vergessen wollte, kamen wieder zurück. Und alle Gefühle. Der Hass, die Wut, die Enttäuschung über seinen Verrat, aber auch die Leidenschaft, die uns damals verband. Und die Schuld.
Jibril ibn Ayman ibn Hafiz al-Assad, Prinz von Granada, was ist bloß geschehen? Was hast du zu tun mit Yareds Ermordung im Löwenhof der Alhambra? Und was mit Cesares Tod in jener Kapelle in Byzanz?
Auf der Suche nach anderen Tagebucheintragungen über Jibril blättere ich weiter. Die Seiten sind eng beschrieben. Doch ab dem 29. Mai, dem Tag der Eroberung, bestehen die Aufzeichnungen nur noch aus unzusammenhängenden Sätzen und wirren Gedanken. Meine geistige Zurechnungsfähigkeit scheint während der Plünderung, des Feuersturms und des blutigen Massakers ernsthaft in Gefahr geraten zu sein. An einigen Stellen habe ich mit dem Silberstift so fest aufgedrückt, dass das Pergament eingerissen ist. Die Schrift, an vielen Stellen fast unleserlich, wird immer unsicherer, zittriger, aufgeregter.
Offenbar habe ich nicht erst seit gestern das Gefühl, dass ich den Verstand verliere, denke ich bestürzt. Mein Leben ist in tausend Teile zerbrochen.
Entsetzt lese ich weiter: Szenen von loderndem Feuer und spritzendem Blut, von Gewalt und Tod, die in der finstersten Hölle zu spielen scheinen. Das Gesicht eines Mannes mit blutüberströmtem blassen, beinahe durchscheinenden Gesicht, das mich in meinen Träumen in Angst und Schrecken versetzt – ist es das Abbild auf dem Mandylion? Habe ich das alles wirklich erlebt? Und habe ich das alles wirklich aufgeschrieben? Ich kann mich nicht erinnern …
Ist die düstere Ahnung von drohender Gefahr, die mich immer wieder packt, ein Echo der durchlebten Schrecken? Ist meine Befürchtung, dass etwas
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