Das letzte Evangelium: Historischer Roman (German Edition)
keuchend den Hof zwischen den Pferdeställen und dem Aedificium. Da ist das Stalltor!
Ich schiebe es einen Spaltbreit auf, schlüpfe in den dämmerigen Stall und …
… bleibe stehen.
Drei Pferde wenden den Kopf, sehen mich erwartungsvoll an und schnauben. Ganz hinten in den Schatten erkenne ich schemenhaft einen schwarzen Hengst mit einer weißen Blesse.
Das ist doch nicht möglich, rede ich mir ein. Das kann nicht sein.
Mir wird heiß und kalt, während ich weitergehe, um mich zu vergewissern, dass ich nicht fantasiere.
Tatsächlich, drei Pferde in den Boxen, drei Zaumzeuge an der Wand da drüben und drei Sättel dort über den hölzernen Trennwänden.
Den Absturz des Pferdes im dichten Schneetreiben habe ich wohl doch nur geträumt. Genauso wie den Angriff durch Murat. Und die Rettung durch Federico.
Ich traue mich gar nicht, den Stall zu verlassen, um sein Grab zu suchen, aber dann tue ich es doch. Ich muss Gewissheit haben. So oder so.
Ich gehe durch den Hof, stapfe die Treppe an der Mauer hinunter und suche vergeblich nach einem festgeklopften Grabhügel unter einem herangeschleppten Dornengestrüpp.
Je näher ich der Stelle komme, wo ich Federico begraben habe, desto langsamer werden meine Schritte. Schließlich bleibe ich stehen, als ob ich den Rand eines Abgrunds erreicht hätte … Irgendwie stimmt das auch. Bebend stehe ich an einem Abgrund in meinem Verstand, und ich fürchte mich davor, den Halt zu verlieren und ins Bodenlose zu stürzen.
Es gibt kein Grab, keine Schleifspur eines Leichnams im Schnee, überhaupt keine Spuren. Weder von Menschen noch von Wölfen. Nicht auf den Stufen, nicht an der Mauer und nicht zwischen den Bäumen dort drüben.
Verwirrt schüttele ich den Kopf.
Tannhäuser war nie hier. Das ist schon schlimm genug.
Aber was noch viel schlimmer ist: Ich war auch nie hier.
Ich erinnere mich an Dinge, die nie geschehen sind. Ich kann Wahn und Wirklichkeit nicht mehr unterscheiden.
Die Furcht vor der Wahrheit treibt mir die Tränen in die Augen. Ich kann sie nicht mehr zurückhalten und schluchze verzweifelt auf. Dann sinke ich in den Schnee und weine. Ich kann nicht mehr, ich bin am Ende meiner Kräfte.
Gibt es etwas Schrecklicheres als die Erkenntnis, dass du Wahnvorstellungen hast? Dass du Menschen lebendig vor dir siehst, die längst tot sind? Dass du Dinge findest, die nie da waren? Dass du in panischer Angst vor einem Attentäter fliehst, während du im Bett liegst und in den Armen deines Mannes schläfst?
Und noch eine andere Frage treibt mich um: Bin ich vielleicht doch nicht diejenige, die ich zu sein glaube? Aber wenn ich nicht Alessandra Colonna bin, wer bin ich dann?
Eine Tobsüchtige, die, wie die unzusammenhängenden Gedanken und das wirre Gekritzel in meinem Notizbuch beweisen, schon in Byzanz den Verstand verloren hat?
Schluchzend berge ich mein tränennasses Gesicht in den Händen und weine verzweifelt vor mich hin.
Jibril hat recht: Ich bin verrückt.
Kapitel 54
In den Krypten der Abteikirche
22. Dezember 1453
Kurz nach acht Uhr morgens
Mit schweren Schritten, als ob ich durch eine zähe, gefrierende Masse waten würde, gehe ich in die Kirche zurück und die Treppe hinunter zu den Krypten.
Ich muss mit Jibril reden. Er muss mir sagen, was wahr ist und was nicht. Habe ich die ganze Nacht verschlafen? Habe ich das alles nur geträumt, den Yeniçeri an meinem Bett, die Suche nach dem Mandylion, die Verfolgung durch Murat, die Entdeckung meines Grabes, die Rettung durch Federico, die Flucht mit dem Pferd, das in die Tiefe gestürzt ist?
Und davor? Was ist wirklich geschehen? Und was nicht?
Am Ende der Treppe gehe ich um die Ecke und folge dem Gang zu der Grabnische, wo ich …
Unvermittelt bleibe ich stehen.
Jibril! Er liegt auf dem Boden, sein Körper seltsam verrenkt. Die umgekippte Kerze, deren Flamme nicht erloschen ist, wirft ein düsteres Licht auf sein verzerrtes Gesicht. Es ist blutüberströmt.
»Um Gottes willen!« Hastig knie ich mich neben ihn und drehe ihn vorsichtig auf den Rücken.
Er stöhnt vor Schmerz und blinzelt mich blicklos an. Das Blut ist ihm in die Augen getropft.
»Jibril!« Mit dem Ärmel wische ich ihm über das blutnasse Gesicht. Er hat eine Wunde an der rechten Seite des Kopfes.
»… skandra?«, keucht er matt.
»Ich bin hier.«
»Lass mich«, ächzt er heiser und wendet das Gesicht zur Wand, um mich nicht ansehen zu müssen.
»Vergiss es. Dreh dich um. Ich will mir die Wunde ansehen.«
Er schlägt nach mir,
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