Das letzte Evangelium: Historischer Roman (German Edition)
aber er ist so schwach, dass er mir nicht wehtun kann. »Lass mich … in Ruhe.«
»Nein«, weise ich ihn resolut zurecht. »Und spiel nicht den sterbenden Helden, sei so gut. Du wirst es überleben.« Ich packe ihn bei den Schultern und drehe ihn wieder auf den Rücken. Er wehrt sich kaum noch. »Ich werde dich verbinden, Jibril. Richte dich auf, damit ich dir dein Hemd ausziehen kann.«
»… skandra …«, nuschelt er, noch ganz benommen von dem Schlag auf seinen Kopf.
Ich hebe seinen Oberkörper an und ziehe ihm sein offenes Hemd über den Kopf, das auf der rechten Schulter ganz nass ist von seinem Blut. Dann helfe ich ihm, damit er sich gegen die Wand lehnen kann. Während ich sein Hemd in Streifen zerreiße, schließt er erschöpft die Augen.
»Sieh mich an!«
Flatternd öffnet er die Lider. Mit der Hand im Nacken hebe ich seinen Kopf leicht an, um die Wunde zu verbinden.
»Jibril?«
»Hmmm …«, brummt er benommen. Er hat einen Schlag auf den Kopf bekommen.
»Erinnerst du dich, was geschehen ist?«
Er schließt matt die Augen und nickt schwach.
»Wer war es, Jibril?«
Er guckt mich an, als habe er mich nicht verstanden.
»Jibril?«
»Hmmm …«
»Wer hat dich niedergeschlagen?«
»Du.«
Kapitel 55
In den Krypten der Abteikirche
22. Dezember 1453
Kurz nach acht Uhr morgens
»Ich?«, frage ich bestürzt.
»Du hast … mich angegriffen.«
»Nein.«
»Du hast … mich niedergeschlagen … und … liegen lassen …«
»Nein, Jibril.«
Oder doch? Ja, ich bin in meinem Zorn auf ihn losgegangen. Ich habe ihn mit meinem Saphirring verletzt. Und ich habe ihn liegen lassen. Aber nein, ich habe nicht versucht, ihn umzubringen. Oder doch?
Ich weiß, dass ich es gekonnt hätte.
Warum lebt er noch?
Weil ich ihn nicht töten wollte.
Aber wer dann? Außer uns beiden ist doch niemand in dieser Abtei. Kein Adrian und kein Lionel, kein Murat und kein Federico.
»Du hattest … vorhin … einen Anfall«, stammelt Jibril heiser. »Erinnerst du dich?«
Ich nicke.
»Als du … wieder du selbst warst … bist du auf mich losgegangen.«
»Tut mir leid«, flüstere ich, und mir wird ganz heiß vor Scham. »Ich weiß nicht, was mit mir los ist. Ich glaube …«
»Was?«, haucht er und sieht mich an.
»Ich glaube, ich werde verrückt.«
Als er die Tränen in meinen Augen bemerkt, tastet er nach meiner Hand und drückt sie kraftlos. »Weißt du noch … was wir uns … in der Hagia Sophia … im Angesicht des Todes … geschworen haben? … ›In guten wie in schlechten Zeiten … bis der Tod uns scheidet.‹ … Erinnerst du dich?«
Wieder nicke ich. Aber es ist eine Lüge. Ich erinnere mich nicht.
Ich erinnere mich nur an Szenen, die nie geschehen sind. Und an Szenen, von denen ich wünschte, sie wären nie geschehen. Ich habe nicht eine einzige schöne Erinnerung, die mich tröstet. Doch, es gibt eine: das leidenschaftliche Liebesspiel mit Jibril in den nächtlichen Gärten der Alhambra. Aber selbst diese Erinnerung ertrank im Blut …
»Ich liebe dich von ganzem Herzen, Al-Iskandra«, flüstert er. »Was immer mit dir geschieht, ich werde zu dir stehen.«
Ich kann die Tränen nicht mehr zurückhalten.
Intermezzo 3
In der Zelle des Abtes
22. Dezember 1453
Kurz nach zwei Uhr nachmittags
»Und dann?«, fragt der Kardinal atemlos.
»Ich habe versucht, Jibril die Treppe hinaufzutragen. Aber ich bin unter seinem Gewicht gestolpert, und wir sind mehrere Stufen hinuntergestürzt.«
»Und dann hast du die Trage gebaut.« Er deutet auf das Gestell, das jetzt aufrecht neben dem Bett an der Wand lehnt.
»Genau. Mit einer Axt und einer Säge aus der Werkstatt habe ich eine der schmalen Pritschen im Dormitorium zerlegt. Ohne Beine wurde der leichte Rahmen mit der dünnen Matratze zur Krankentrage, die ich hinter mir herziehen konnte.«
Er nickt versonnen.
»Ich wuchtete Jibril auf das Bettgestell und band ihn mit einem Seil aus der Werkstatt auf der Matratze fest. Ich sprach ihn an, aber er reagierte nicht.«
»Nach dem Sturz war er wahrscheinlich noch immer nicht bei Sinnen«, vermutet der Kardinal.
»Genau.« Ich nicke. »Ich legte mir die Seilschlaufe um, die an der Trage befestigt war, und zog ihn polternd die Stufen hinauf. Ein Schlitten mit Kufen aus den Brettern eines zerlegten Bettes wäre für ihn sicher angenehmer gewesen, aber dafür reichte weder mein handwerkliches Geschick noch die Zeit. Jibril musste so schnell wie möglich ins warme Bett. Mit aller Kraft hängte ich mich also ins Seil
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