Das letzte Evangelium: Historischer Roman (German Edition)
Ascoli Piceno, 9 Settembre 1453.‹ Weißt du, was das bedeutet?«
»Nein.«
»Dass Jibril jemanden nach Ascoli geschickt hat, um diese Gedenktafel aus dem Dom zu stehlen. Und dafür werde ich ihn und jeden, der ihm dabei geholfen hat, exkommunizieren.«
»Ascoli?«, frage ich nach.
»Auf Befehl des Papstes haben sowohl dein Vater, Luca d’Ascoli, als auch du, Alessandra d’Ascoli, im Dom von Ascoli ein Scheingrab mit einer marmornen Gedenktafel, die euch ehrt und die eure Verdienste um die Kirche würdigt. Luca wäre vor vierzehn Jahren beinahe Papst geworden, erinnerst du dich? Dein ›heiliger Vater‹ liegt allerdings in der Kirche Santi Apostoli neben dem Palazzo Colonna in Rom begraben.« Er lächelt matt. »So wie du.«
Kapitel 64
In der Zelle des Abtes
22. Dezember 1453
Kurz vor halb drei Uhr nachmittags
Als Vittorio den Raum verlässt, um sich in der Küche um unser Abendessen zu kümmern, springt Prospero unvermittelt auf, folgt ihm hinaus in den Gang, zieht die Tür hinter sich ins Schloss. Beide tuscheln miteinander.
Was soll das? Warum soll ich nicht hören, was die beiden reden? Wem gilt eigentlich Vittorios Loyalität, ihm oder mir?
»… weiß nicht, ob ich sie davon überzeugen kann, mit uns …«, flüstert Prospero. »… wird sehr schwierig werden, ihr Vertrauen zu gewinnen. Sie ist sehr misstrauisch, und …«
Welche Rolle spielt Prospero in diesem Irrsinn? Was hat er vor?
Bevor ich den Gedanken zu Ende gedacht habe, reißt jemand die Tür auf. Prospero stürmt in den Raum und lässt sich wieder in seinen Sessel fallen. »Gämsenbraten in Weinsauce«, sagt er genüsslich und legt die Füße wieder auf die Truhe. »Zum Nachtisch gibt es Marzipan. Ich habe noch ein wenig in meinen Satteltaschen.«
Als hätte er eben mit Vittorio die Speisenfolge für das Abendessen besprochen!
Prospero nimmt unterdessen die Karte von Konstantinopolis vom Tisch, rollt das zerknitterte Pergament auseinander und betrachtet die beiden roten Kreuze. »Die Kapelle des Bukoleon-Palastes und die Kapelle des Blachernen-Palastes. Wo hast du das Mandylion gefunden?«
»Im Blachernen-Palast.«
Prospero nickt versonnen.
Verstohlen mustere ich ihn. Geheimnisvoll blaue Augen mit einem goldenen Ring um die Iris. Sinnlich geschwungene Lippen. Geschmeidige, kraftvoll beherrschte Bewegungen, als kämpfe er regelmäßig mit dem Schwert. Stolze Haltung. Gebieterisches Auftreten. Prospero ist ein sehr gut aussehender Mann Mitte vierzig. Sehen wir uns ähnlich? Wenn ich doch nur einen Spiegel hätte, um uns nebeneinander zu betrachten!
Nichts an ihm erinnert mich an Cesare. Aber das Gesicht meines Mannes kann ich nach wie vor nur als bewegten Schemen erkennen. Die Erinnerung an seinen abgetrennten Kopf ist zu schmerzhaft, als dass ich mich wirklich erinnern will .
Prosperos gepflegte Erscheinung und sein ordentlich gestutzter Bart lassen mich darauf schließen, dass er einen Handspiegel in seinem Gepäck hat. Wenn ich den in die Finger bekommen würde, ohne dass er es merkt …
Ich besinne mich. »Wozu zwei Kreuze auf der Schatzkarte?«
Er antwortet nicht, sondern starrt weiter auf die Karte in seiner Hand.
»Erzähl mir von dem Mandylion.«
Prospero lehnt sich in seinem Sessel zurück, wippt mit den Füßen auf der Truhe und beginnt zu erzählen.
»Das Mandylion ist die mächtigste Reliquie der Christenheit. Und sie wäre die berühmteste, wenn sie nicht vor einigen Jahrhunderten verloren gegangen wäre. Die Herkunft ist in Geheimnisse gehüllt, deren Ursprünge aufzuspüren wohl hoffnungslos ist.«
»Wer sagt das?«
»Du.«
»Ich?«
»Du hast die Geschichte des Mandylions erforscht. Im Geheimarchiv des Vatikans. Mithilfe von römischen, griechischen, ägyptischen, syrischen, russischen, deutschen, englischen und isländischen Quellen.«
»Isländisch?«
»Ein isländischer Abt hat einen Bericht über das Mandylion verfasst.«
»Auf Isländisch?«
Prospero verdreht die Augen. »Auf Lateinisch.«
»Und was habe ich nun herausgefunden?«
»Dass das Mandylion als Abbild Jesu im Gegensatz zum Grabtuch noch zu seinen Lebzeiten entstanden sein muss. Die Byzantiner glaubten, die schwach sepiafarbenen Spuren im Tuch wären der Blutschweiß von der Todesangst Jesu im Garten Getsemani vor seiner Festnahme. Evangelium des Lukas, Kapitel zweiundzwanzig.«
Daher also mein Albtraum von der Nacht des Verrats, die einerseits mit der Kreuzigung, andererseits mit einem Kampf auf Leben und Tod in der Kapelle endete?,
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