Das letzte Evangelium: Historischer Roman (German Edition)
ist genauso entsetzt wie ich, als ich gestern zum ersten Mal in den Spiegel sah und mich selbst nicht erkannte. Eine Fremde blickte mir aus dem geborstenen Spiegel entgegen.
»Deine Verletzungen … Wie ist das geschehen?«
Ich zögere einen Augenblick. »Das war ich selbst.«
Es ist nur ein Teil der Wahrheit, aber was soll’s. Der andere Teil würde zu viele Fragen aufwerfen, die ich nicht beantworten kann. Noch nicht.
Nach einem langen Blick, den ich nicht deuten kann, zieht er das Notizbuch zu sich heran, schlägt es auf und zeigt mir zwei leere Seiten in der Mitte des Büchleins, genau zwischen den Notizen, die ich am Anfang niedergeschrieben habe, und denen, die ich vorhin am Ende des auf den Kopf gestellten Notizbuches gemacht habe. Die beiden Eintragungen nähern sich von vorn und von hinten einander an. Was wird geschehen, wenn die Gegenwart in der Mitte des Büchleins auf die Vergangenheit trifft? Wenn ich mich endlich erinnern kann? Wenn ich begreife, was um mich herum vorgeht? Wenn ich weiß, was meine düsteren Vorahnungen bedeuten?
Ich betrachte die leeren Seiten und nicke.
Ja, so fühle ich mich, denke ich traurig. Wie eine unbeschriebene Seite, irgendwo zwischen der Vergangenheit, die sich mir entzieht, und der Gegenwart, die ebenso wenig greifbar ist. Meine Lebensgeschichte, die gestern erst begann, besteht aus wenigen hastig hingekritzelten Eintragungen in meinem Notizbuch.
»Ich habe gelesen, was du vor wenigen Stunden geschrieben hast. Erzähl mir, was dort nicht steht.«
Die kürzeste Lebensgeschichte aller Zeiten. Aber bleibt mir noch so viel Zeit, um sie zu erzählen?
Wieder irrt mein Blick zum Fenster. Wie spät ist es? Wie lange war ich ohnmächtig? Wie viele Stunden sind vergangen, seit Jibril verschwunden ist? Wo sind Lionel und Adrian?
Ich mustere den Mann, der mir gegenübersitzt. Seine mit Ringen geschmückten Finger hält er flach auf dem Tisch, damit ich sie sehen kann. Erst jetzt fällt mir der Siegelring auf. Das Wappen kann ich nicht erkennen.
Langsam atme ich aus. Kann er mir helfen, das Rätsel zu lösen, von dem mein Leben abhängt? Kann ich ihm vertrauen? Oder gehört er zu den Johannitern, die mein Leben bedrohen? Ist er Teil dieser heimtückischen Verschwörung? Soll er mich dazu bringen, dass ich mich erinnere?
Wenn ich mich ihm anvertraue, wenn ich ihm das Geheimnis offenbare, vertraue ich ihm mein Leben an. Die Vorstellung, mein Schicksal in die Hände eines anderen zu legen, den ich nicht kenne, den ich nicht einschätzen kann, dem ich nicht vertrauen kann, ist mir unerträglich. Aber habe ich denn eine Wahl?
Ja, die habe ich: Ich kann ihn töten.
Ich glaube, er spürt, wie aufgewühlt ich bin, denn er bedrängt mich nicht, sondern wartet geduldig ab, bis ich bereit bin, zu erzählen. Meine Hände, die neben dem Dolch auf dem Tisch liegen, lässt er nicht aus den Augen.
Ich atme tief durch. »Ich traue meinen Erinnerungen nicht mehr.«
»Was meinst du damit?«
»Ich traue mir selbst nicht mehr.«
Er nickt versonnen. Er hat also meine Notizen gelesen. Aber offensichtlich nicht verstanden.
»Ich muss von Anfang an erzählen, sonst verstehst du nicht, was in den letzten Tagen in dieser Abtei geschehen ist.«
Er lehnt sich zurück, faltet die Hände vor der Brust und blickt mich auffordernd an. »Ich bin gespannt.«
»Meine Geschichte beginnt mit ihrem Ende.« Ich mache eine kurze Pause. »Mit meinem Tod.«
Wie entsetzt er mich ansieht! Hielt er mich denn nicht auch für tot und begraben?
»Sterben ist wie schlafen. Wie vergessen. Wie ein Flug der Seele in eine andere Wirklichkeit. Es gibt keine Worte, um dieses herrliche Empfinden zu beschreiben. Aber um das Gefühl wiederzugeben, das dich wie ein Schmerz durchzuckt, wenn jemand dich für tot erklärt, obwohl du noch lebst, atmest und fühlst, dafür reicht ein einziges Wort: Hölle.
Kapitel 1.« Ich mache einen tiefen Atemzug, dann tauche ich in meine Erinnerungen ein: »Schlaf, dem Tode nah. Die Finsternis des Vergessens umgibt mich wie ein undurchdringlicher Nebel. Zwei Hände ragen daraus hervor. Blut rinnt von ihnen hinab …«
Kapitel 62
In der Zelle des Abtes
22. Dezember 1453
Viertel nach zwei Uhr nachmittags
»So war es. Genau so.«
Prospero zuckt zusammen. Er nimmt die Füße von der Reisetruhe und setzt sich wieder aufrecht hin. Wie gebannt hat er Stunde um Stunde meiner Erzählung gelauscht, die mit seiner und Vittorios Auftauchen in der Abtei endete. Nur ein Mal ist er ganz leise
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